10. Verhältnis der Einkunftsarten zueinander („Betriebsstättenvorbehalt“)

Art. 7 Abs. 7 OECD-MA 2008/Art. 7 Abs. 4 OECD-MA 2010 enthalten den sog. Betriebsstättenvorbehalt.

Die Verteilungsnormen über Dividenden (Art. 10 Abs. 1 und 2 OECD-MA), Zinsen (Art. 11 Abs. 1 und 2 OECD-MA) und Lizenzgebühren (Art. 12 Abs. 1 OECD-MA) gehen den Vorschriften über die Unternehmensgewinne grundsätzlich auch dann vor, wenn die zugrunde liegende Beteiligung, Forderung oder nutzbaren Wirtschaftsgüter zum Betriebsvermögen eines Unternehmens gehören.

Eine Ausnahme hiervon gilt durch die Rückverweisungen in Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 4 und Art. 12 Abs. 3 OECD-MA. Sofern die Beteiligung, die Forderung oder die nutzbaren Wirtschaftsgüter zu einer Betriebsstätte des Unternehmens im Quellenstaat gehören, erfolgt eine Besteuerung nach den Grundsätzen für Betriebsstätten. Daraus folgt, dass der Quellenstaat nicht den Bruttobetrag der Dividenden, Zinsen oder Lizenzgebühren besteuern darf, sondern den Nettobetrag der Unternehmensgewinne, soweit sie der Betriebsstätte zuzurechnen sind. Eine Begrenzung des Steuerzugriffs durch den Quellenstaat erfolgt – anders als bei Dividenden oder Zinsen – nicht.

Anders als nach nationalem Recht gibt es keinen Vorrang für die gewerblichen Einkünfte im Rahmen der Subsidiarität. Allerdings kommt es zum gleichen Ergebnis, weil die Ausnahmeregelung, dass Zinsen, Dividenden und Lizenzen nicht zu Betriebsstätteneinkünften führen sollen (Art. 7 Abs. 7 OECD-MA 2008/Art. 7 Abs. 4 OECD-MA 2010) durch die Ausnahmevorschriften der Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 4 und Art. 12 Abs. 3 OECD-MA durchbrochen werden. Damit gilt infolge der Ausnahme von der Ausnahme wieder die Regel. Es liegen deshalb – wie dies auch nach nationalem Recht der Fall wäre – wieder gewerbliche Einkünfte (hier: Einkünfte einer Betriebsstätte) vor.

Der BFH[1] hatte einen Fall über eine Beteiligung an einem Private Equity (PE)-Fonds in Großbritannien zu entscheiden, der gewerbliche Einkünfte bezog. Das Besteuerungsrecht für gewerbliche Einkünfte gemäß DBA Großbritannien hat der Staat, in dem der Fonds mit einer Betriebsstätte tätig ist. In Deutschland bleiben die Gewinne steuerfrei gemäß Art. 23A DBA Großbritannien, auch wenn der Fonds im Ausland über kein eigenes Büro/Personal verfügt, sondern die Geschäftsausübung über eine Managementgesellschaft erfolgt, und die Fondseinkünfte im anderen Vertragsstaat nicht besteuert werden. § 50d Abs. 9 EStG, der den Rückfall des Besteuerungsrechts an Deutschland vorsieht, wenn andernfalls die Einkünfte überhaupt nicht besteuert werden, greift nach Ansicht des BFH nur bei einem sog. negativen Qualifikationskonflikt, nicht aber, wenn Grund für die Nichtbesteuerung im anderen Staat dessen nationales Steuerrecht ist, z. B. weil dieser Staat PE-Engagements steuerlich subventioniert. Die Freistellung von der inländischen Besteuerung erfasse auch Dividenden, die aufgrund des sog. Betriebsstättenvorbehalts nach dem DBA Großbritannien 1964/1970 im Quellenstaat als gewerbliche Einkünfte zu behandeln sind, so der BFH in seinem vierten Leitsatz. Einkünfte, die nach dem Betriebsstättenvorbehalt zu behandeln sind (d. h. Besteuerung im Betriebsstättenstaat), sind im Ansässigkeitsstaat gemäß Art. 23A DBA Großbritannien freizustellen.

[1] BFH vom 24.08.2011, I R 46/10, DStR 2011 S. 2085.