Vorlage zum EuGH, denn die Prostituierten sind Unternehmerinnen und unterliegen damit nicht der Lohnsteuer
Es ist zu argumentieren, dass die Prostituierten im Sinne der Mehrwertsteuersystemrichtlinie selbstständige Unternehmerinnen sind. Wenn sie aber einmal als selbstständige Unternehmerinnen qualifiziert sind, so kommt eine Subsumtion nach nationalen Vorschriften, die das Ergebnis einer Arbeitnehmereigenschaft begründen würde, nicht in Betracht.
Es wird beantragt,
dem EuGH folgende Frage zur Entscheidung vorzulegen:
Steht die deutsche nationale Auslegung zu der Frage der Arbeitnehmereigenschaft einer europarechtsrichtigen Auslegung des Art. 10 der RICHTLINIE 2006/112/EG DES RATES vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem entgegen, soweit auf Auslegungsregelungen Bezug genommen wird, die dazu führen, dass die nationale deutsche Beurteilung von den Ergebnissen einer Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft nach der Richtlinie abweicht?
Begründung des Antrags auf Vorlage beim EuGH
Als Begründung ist für diesen Antrag ist anzuführen, dass der (Haftungs)-Bescheid zur Lohnsteuer (oder die Anklage zur Lohnsteuerhinterziehung) voraussetzt, dass die Prostituierten bei dem Bordellbetreiber lohnsteuerrechtlich zu behandeln sind. Das ist falsch, denn die Prostituierten sind umsatzsteuerrechtlich Unternehmerinnen.
In dieser ersten Überlegung geht es darum festzustellen, welche umsatzsteuerrechtlich relevante Norm in welcher Ausprägung überhaupt Anwendung finden darf, um die Frage zu beantworten, ob die Prostituierten Unternehmerinnen sind.
Eine Subsumtion dieser Frage aus dem nationalen deutschen Umsatzsteuerrecht ist insoweit richtig, als dass das deutsche Steuerrecht sich nicht gegen die zu Grunde liegende Mehrwertsteuersystemrichtlinie richten darf.
Insofern, als dass sich eine widersprüchliche Subsumtion des vorliegenden Sachverhaltes nach der Richtlinie gegenüber der deutschen Umsetzung der Richtlinie ergeben würde, kommt eine (ausschließliche) Anwendung des deutschen nationalen Rechts als Grundlage einer Haftung (einer Straftat) nicht in Betracht.
Der vermeintliche Haftungsschuldner kann sich in diesen Fällen nämlich unmittelbar auf die Richtlinie berufen.
Wenn eine Subsumtion nach der Richtlinie erfolgt wäre, so hätte man festgestellt, dass die Prostituierten umsatzsteuerrechtlich Unternehmerinnen sind. Wenn aber die Prostituierten umsatzsteuerrechtlich Unternehmerinnen sind, so sind sie eben nicht lohnsteuerrechtlich zu behandeln.
Grundgedanke der nachfolgenden Ausführungen ist die Überlegung, dass die Mehrwertsteuersystemrichtlinie von den einzelnen Nationalstaaten (richtig) umzusetzen ist. Es wird auf den Harmonisierungsauftrag aus Art. 113 AEUV verwiesen. Richtigerweise können die nationalen Staaten bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien Ergänzungen und Ausführungsbestimmungen hinzufügen.
Soweit es sodann Divergenzen zwischen dem nationalen Recht und der europäischen Richtlinie gibt, ist dieses Problem aufzulösen.
Eine Methode ist es, die entsprechende Norm dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, damit dieser darüber entscheidet, ob und inwieweit die nationale Norm der europäischen Regelung entgegensteht und daher nicht anzuwenden ist.
Soweit ein rein nationaler Sachverhalt vorliegt, so ist dieser Weg nicht die übliche Vorgehensweise. Eine nationale Norm ist dennoch bei der Auslegung von den jeweiligen nationalen Gerichten europarechtskonform auszulegen, damit keine unterschiedlichen nationalen Regelungen im Gegensatz zur Richtlinie entstehen.
Der EuGH hat diese Anweisung der gemeinschaftsrechtlich auszulegenden Norm weiter vertieft und in seinen neueren Urteilen wiederholt. So hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 13.02.2014, Rs. C-18/13 „Maks Pen EOOD“, in der Rdnr. 36 der Urteilsgründe wie folgt formuliert:
„Dabei ist zu beachten, dass das nationale Gericht das nationale Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der betreffenden Richtlinie auslegen muss, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen; dies verlangt, dass es unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der in diesem anerkannten Auslegungsmethoden alles tut, was in seiner Zuständigkeit liegt (…). Das vorlegende Gericht hat also zu prüfen, ob sich die Regeln des nationalen Rechts, die es anführt und die seiner Ansicht nach gegen die Erfordernisse des Unionsrechts verstoßen könnten, im Einklang mit dem Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, das die Grundlage dieser Erfordernisse bildet, auslegen lassen.“
Dieses betrifft auch und gerade rein nationale Sachverhalte. Gerade in der Sache ITALMODA (EuGH-Urteil vom 18.12.2014, Rs. C-131/13 u. a.), in der sich die Steuerpflichtige darauf berufen hatte, dass es lediglich um die Subsumtion nationalen Rechts ginge, hat der EuGH in dem Urteil in Rdnr. 26 festgestellt:
„Hierzu ist festzustellen, dass diese Frage offenkundig nicht die Auslegung des nationalen Rechts, sondern die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere der Bestimmungen der Sechsten Richtlinie, betrifft.“
Diese Form der europarechtsfreundlichen oder gemeinschaftsrechtsfreundlichen Auslegung hat der EuGH immer wieder in den Vordergrund seiner Entscheidungen gestellt. Eine Subsumtion, welche dazu führt, dass nach nationalem Recht eine Steuer deshalb entsteht, weil eine nationale Norm gegen den Sinn der Richtlinie angewendet wird, ist nicht hinnehmbar. Sofern eine nicht unionsrechtskonforme Umsetzung in Deutschland erfolgt ist, kann eine auf Basis eines derartigen unionsrechtswidrigen Tatbestandes festgesetzte Umsatzsteuer nicht vorwerfbar oder leichtfertig verkürzt werden (vgl. auch Adick/Höink/Kurz, Umsatzsteuer und Strafrecht, Heidelberg 2016, § 2 Rdnr. 21). Gleiches muss natürlich auch für die Konstruktion einer Lohnsteuer gelten.
In der Sache ITALMODA führt der EuGH in Rdnr. 31 der Urteilsgründe wie folgt aus:
„Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt hat und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile Budĕjovický Budvar, C‑478/07, EU:C:2009:521, Rn. 63, Zanotti, C‑56/09, EU:C:2010:288, Rn. 15, sowie Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 27)“.
Das hier mit der Rechtsfrage befasste Finanzgericht (oder auch das Strafgericht) kann und muss daher die Auslegung der nationalen Norm in eigener Kompetenz nach richtlinienkonformer Gesichtspunkten suchen; der EuGH wird, soweit er angerufen wird, über diese nationale Vorlagefrage entscheiden. Dabei wird ein möglicher Gegensatz des nationalen Rechts zu der Richtlinie ausschließlich in der Richtung aufgelöst, dass die Richtlinie das entscheidungserhebliche Moment aufweist.
Unter diesem Gesichtspunkt muss daher untersucht werden, ob nicht die Prostituierten im Sinne der Mehrwertsteuersystemrichtlinie selbst umsatzsteuerrechtliche Unternehmerinnen waren/sind. Soweit bei der Auslegung sodann unter ausschließlicher Bezugnahme auf deutsches Recht den Prostituierten diese Unternehmereigenschaft (wieder) abgesprochen wird, haben wir es mit einer europarechtswidrigen Anwendung bzw. Auslegung der nationalen Norm zu tun. Eine solche Anwendung einer deutschen Norm kann nicht akzeptiert werden.
Mit einfachen und anderen Worten ausgedrückt: Wenn die Prostituierten nach der europäischen Richtlinie schon umsatzsteuerliche Unternehmerinnen sind, so kann eine nationale Norm des deutschen Umsatzsteuerrechts ihnen diese umsatzsteuerliche Unternehmereigenschaft nicht mehr absprechen. Wenn die Prostituierten aber Unternehmerinnen sind, so sind sie eben nicht gleichzeitig für die identische Dienstleistung auch Arbeitnehmerinnen. Dieses Doublette der doppelten Eigenschaft, nämlich gleichzeitig Unternehmerin und Arbeitnehmerin zu sein, ist nicht denkbar.
Es wird hiermit deutlich in den Raum gestellt, dass die vorgreifliche Subsumtion nach der europäischen Mehrwertsteuersystemrichtlinie durchzuführen ist. Wenn nach der Richtlinie die Unternehmereigenschaft der Prostituierten zu bejahen ist, kann diese nicht in einem EU-Mitgliedstaat (auch nicht in Deutschland) durch Auslegung nach nationalen Vorschriften, sei es aus dem Arbeitsrecht oder dem Prostitutionsgesetz, gegenläufig subsumiert werden. Es wäre allenfalls festzustellen, dass ein nationales Gesetz gegen die Richtlinie verstößt.
Es ist also in diesem Verfahren als vorgreifliche Überlegung eine Subsumtion anhand der europäischen Mehrwertsteuersystem-Richtlinie vorzunehmen.
Die Auslegung nach der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL)
Wirtschaftliche Tätigkeit
Art. 1 Abs. 2 letzter Satz MwStSystRL
Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem wird bis zur Einzelhandelsstufe, diese eingeschlossen, angewandt.
Art. 2 Abs. 1 lit. c MwStSystRL
(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze (…)
- c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt; (…)
Nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie gilt als Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt. Diese Ergebnis findet sich verdeutlicht in der neueren Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 9. Februar 2017, Rs. C-21/16 “Euro Tyre BV“) mit dem ergänzenden Hinweis in dieser Entscheidung, dass es auch auf die Frage nicht ankommt, ob der Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer besitzt. Ausreichend für die Handlung des Steuerpflichtigen im Sinne einer wirtschaftlichen Tätigkeit ist, wenn er Umsätze im Rahmen seiner steuerbaren Tätigkeit tätigt (mit weiterem Hinweis auf EuGH, Urteil vom 27. September 2012, Rs. C-587/10 „VSTR“).
Um also festzustellen, ob im jeweiligen Verfahren die Prostituierten als Steuerpflichtige handeln, ist daher zu prüfen, ob diese eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Mehrwertsteuersystemrichtlinie ausüben.
Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie als wirtschaftliche Tätigkeiten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe gelten.
Um also zu klären, ob die von den Prostituierten vorgenommenen Dienstleitungen eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie darstellen, muss somit also geprüft werden, ob diese Prostitutionsdienstleistungen eine Dienstleistung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie darstellen.
Dieses kann hier ohne Weiteres bejaht werden, denn wenn es eine nicht (umsatz-) steuerbare Dienstleistung (im Sinne der Richtlinie) wäre, so könnte natürlich der Bordellbetreiber nicht Haftungsschuldner einer Umsatzsteuer sein (oder Steuerhinterzieher einer Umsatzsteuer), die von angeblich angestellten Prostituierten erwirtschaftet werden würde.
Weiter ist zu prüfen, ob diese Dienstleistung gegen Entgelt erbracht wurde, wie es Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuersystemrichtlinie voraussetzt.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eine Dienstleistung nur dann im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c) der Mehrwertsteuersystemrichtlinie „gegen Entgelt“ erbracht wird und somit steuerpflichtig ist, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (vgl. u. a. Urteile vom 3. März 1994, Rs. C-16/93 „Tolsma“, EU:C:1994:80, Rn. 14; vom 5. Juni 1997, Rs. C-2/95 „SDC“,, EU:C:1997:278, Rn. 45; und vom 26. Juni 2003, Rs. C-305/01 „MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring“, EU:C:2003:377, Rn. 47).
Auch diese Voraussetzung ist gegeben. Die Freier bezahlen für den Empfang der Prostitutionsdienstleistung.
Diese Zahlung beruht auf einem zwischen der Prostituierten und dem Freier abgeschlossenen Dienstleistungsvertrag. Dieser zivilrechtliche Vertrag ist problemlos möglich seit der Einführung des Prostitutionsgesetzes. Solche Verträge sind nicht mehr sittenwidrig. Dieser zivilrechtlich anerkannte Vertrag ist das Rechtsverhältnis, aufgrund dessen die Prostituierten mit den Freiern Leistung und Gegenleistung austauschen. – Selbst wenn diese letztgenannte Zuordnung der Prostitutionsdienstleistung statt der Prostituierten dem Bordellbetreiber zugeordnet werden würde (dazu später), so ist dennoch die Voraussetzung „gegen Entgelt“ gegeben, denn die Freier bezahlen dafür.
Unter Dienstleistungen im Sinne des AEUV werden Leistungen verstanden, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht unter die Vorschriften des Freien Kapital- und Zahlungsverkehrs oder der Personenfreizügigkeit fallen (Art. 57 AEUV). Dienstleistungen sind danach insb. gewerbliche Tätigkeiten. Dass die Prostitutionsdienstleistung der Gewerbesteuer unterfällt, ist von der deutschen Finanzgerichtsbarkeit festgestellt. Die Prostitutionsleistung unterfällt, weil sie eine gewerbliche Tätigkeit ist, der Gewerbesteuer. Es handelt sich um eine Dienstleistung. Diese Prostitutionsdienstleistung wird auch gegen Entgelt erbracht. Die Freier zahlen unterschiedliche Beträge für unterschiedliche Dienstleistungen. Leistungsempfänger ist der Freier. Leistende der Dienstleistung ist die jeweilige Dame.
Ausnahme: Arbeitsvertrag oder sonstiges Rechtsverhältnis
Davon kann nur eine Ausnahme akzeptiert werden, wenn nämlich der Fall des Art. 10 der Richtlinie gegeben ist.
Artikel 10 MwStSystRL
Die selbstständige Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 schließt Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Arbeitsvertrag
Ein Arbeitsvertrag liegt in keinem der Fälle mit den Prostituierten vor. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag ist niemals geschlossen worden. Ein mündlicher faktischer Arbeitsvertrag ist zwischen den Prostituierten und den beiden Kapitalgesellschaften ebenfalls nie geschlossen worden. Beide Vertragsparteien wollten keine vertragliche Bindung mit dem Inhalt eines Arbeitsvertrages.
An dieser Stelle muss nochmals verdeutlicht werden, dass wir nur zufällig in der deutschen Sprache unterwegs sind. Es handelt sich um eine europäische Richtlinie und die Auslegung erfolgt nun ausschließlich aus europäischem Blickwinkel. Ein Rückgriff auf deutsche arbeitsrechtliche Grundsätze muss unterbleiben, denn eine Subsumtion muss immer auch europäisch gleichartig wirken. Die Richtlinie will keine 26 verschiedenen nationalen Antworten auf die Auslegung der Richtlinie.
Der Bordellbetreiber ist sich bewusst, dass ein „Arbeitsvertrag“, der den Inhalt hätte, dass die Mitarbeiterinnen sich verpflichten, sexuelle Dienstleistungen gegenüber den von einem „Arbeitgeber“ ausgesuchten Sexualpartnern mit Praktiken, die der „Arbeitgeber“ ausgehandelt hat, durchzuführen, den „Arbeitgeber“ in den Bereich der Strafbarkeit wegen §§ 180a und 181a StGB begeben würde. Die Prostituierten sind sich bewußt, dass ein Arbeitsvertrag gegen einen festen Monatslohn ihr Engagement nicht gerecht ausgleicht und hätten sich nie darauf eingelassen.
Es hat daher auch nie ein Verhalten der Prostituierten oder des Bordellbetreibers gegeben, welches als eine Willenserklärung zum Abschluss eines Arbeitsvertrages zu werten gewesen wäre.
Ein durch bloße nationale Auslegung „fingierter“ Arbeitsvertrag erfüllt nicht die Voraussetzung von Art. 10 MwStSystRL. Dieses wäre eine nur nationale Auslegung und würde nicht in allen Mitgliedstaaten in gleichem Maße nach gleichen Regeln vorgenommen. Dieses würde der Auslegung der Richtlinie nicht in allen Mitgliedstaaten entsprechen. Nach der Richtlinie muss aber die Norm in allen Mitgliedstaaten gleich verstanden werden. Es ist trotz der Richtlinie nicht beabsichtigt, dass unterschiedliches Umsatzsteuerrecht, je nach Auslegung der jeweils nationalen Normen, entsteht. Die Richtlinie ist kein unverbindlicher Vorschlag, sondern ein umzusetzender Gesetzgebungsbefehl.
Sonstiges Rechtsverhältnis
Übrig bleibt zu untersuchen, ob ein sonstiges Rechtsverhältnis vorgefunden wurde, welches hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des „Arbeitgebers“ ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
Eine Unterordnung der Prostituierten als notwendige Voraussetzung der Norm ist regelmäßig nicht feststellbar. Diese kommen und gehen nach den Chancen der Verdienstmöglichkeit.
Damit ist die Fallprüfung zu Ende, denn nun kommt es nicht darauf an, wie die drei Bedingungen, die diese Unterordnung kausal hervorrufen sollen, zu betrachten waren. Nur zur Abrundung können an dieser Stelle einige Worte zu diesen kausalen Bedingungen gesagt werden.
Die Bedingungen der Arbeit haben kein Verhältnis der Unterordnung geschaffen. Vergleicht man als Beispiel die Tournee von verschiedenen Artisten (oder Ständen auf einem Weihnachtsmarkt oder bei Ritterspielen), welche aus freiberuflich schaffenden Talenten zusammengesetzt ist, so ergibt sich kein Wertungsunterschied. Soweit man den Bordellbetreiber mit dem Organisator der Tournee vergleicht, so hat dieser gleichartig für die Bedingungen der Arbeit gesorgt. Er hat nämlich den freiberuflich Tätigen einen Platz angeboten, an dem diese ihre eigene Dienstleistung verkaufen konnten. Einfluss auf die tatsächlichen Bedingungen zur Durchführung des jeweiligen Auftritts war weder gewünscht noch möglich. Es wurde jeweils nur die Bühne für die eigene Show der freiberuflich Schaffenden zur Verfügung gestellt.
In den Beispielfällen Ritterspiele und Weihnachtsmarkt und bei den Prostituierten wurde dafür Sorge getragen, dass die Bühne dem Bedürfnis des freischaffend Tätigen entspricht. In allen Fällen war man sich darüber im Klaren, dass wenn die Ausstattung der Bühne nicht ordnungsgemäß erfolgt, keiner von den umworbenen Künstlern sich bereit erklärt hätte, an dieser Stelle seine Tätigkeit aufzunehmen.
Nur zur Abrundung wird auf die Internet Plattformen wie zum Beispiel „ebay“ oder „Appstore“ aufmerksam gemacht. Dort werden auch Plätze verkauft (vermietet), auf denen der Einzelanbieter seine Dienstleistung eigenverantwortlich anbietet.
Da diese kausale Voraussetzung negiert werden konnte, ist auch die weitere Prüfung obsolet, denn die Vorschrift verlangt durch das „und“ eine Bejahung aller Voraussetzungen (kausale Verknüpfung).
Höchst hilfsweise kann dennoch zu der Voraussetzung des Arbeitsentgeltes vorgetragen werden. Hinsichtlich des Arbeitsentgeltes haben die Bordellbetreiber gegenüber den Prostituierten kein konkretes Abrechnungsverhältnis zugrunde gelegt. Die Prostituierten waren frei in der Preisgestaltung gegenüber den Freiern. Sie waren frei in der Wahl ihrer Kunden, sie waren frei in der Wahl der Dienstleistung, die sie anbieten wollten, und sie waren ebenso frei in der Frage, wie viel Geld sie mit den einzelnen Dienstleistungen verdienen wollten.
Im Einzelnen ist sogar zu unterscheiden, in welche Richtung eine mögliche Kommunikation über Leistung und Gegenleistung erfolgt sein könnte. Soweit die Feststellung der Steuerfahndung die Kommunikation in Richtung der Freier (also Werbeaussagen des Bordellbetreibers) als Indikator für ein Arbeitsverhältnis in das Feld führt, so muss darauf geantwortet werden, dass diese Überlegung nicht nur im Sinne der Richtlinie falsch ist. Ein Arbeitsverhältnis zwischen den Prostituierten und en Kapitalgesellschaft wird nicht durch ein Verhalten gegenüber dritten Personen begründet.
Die Gestaltung des Arbeitsentgeltes ist im Sinne der Richtlinie nur dann relevant, wenn sie gegenüber den Prostituierten kausal ein Verhältnis der Unterordnung schafft. Den Freiern gegenüber war die Vereinbarung über eine sexuelle Dienstleitung kein Vorgang, der die Prostituierten gegenüber dem Bordellbetreiber unterordnete.
Eine Kommunikation der Prostituierten nach außen hin (sofern es einen Mindestpreis für eine bestimmte sexuelle Dienstleitung gegeben haben sollte) ist allenfalls als eine Einschätzung des Marktpreises zu verstehen. Eine Preisgestaltung des Bordellbetreibers gegenüber den Prostituierten in dem Sinne, dass das Arbeitsentgelt von diesem festgesetzt werden würde, wird nicht einmal in den Berichten der Steuerfahndung kommuniziert. Die Prostituierten waren hinsichtlich des Entgeltes für ihre Arbeit frei, sie konnten über die Annahme des Auftrages, den Umfang des Auftrages, den Preis des Auftrages völlig frei bestimmen. Da sie auch grundsätzlich über die Dauer ihrer Anwesenheit auf dem Marktplatz frei bestimmen konnten, ist jedes Philosophieren über ein Lenken und Beeinflussen des Arbeitsentgeltes zielgerichtet zur Schaffung eines Verhältnisses der Unterordnung völlig obsolet.
Damit sind zwei der drei Gesichtspunkte, die das Gesetz mit dem „und“ bindet, zu negieren.
Dennoch soll auch zu dem letzten Punkt, der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers, die ein Verhältnis der Unterordnung schaffen müsste, vorgetragen werden.
Durch welche Tätigkeit des Bordellbetreibers wäre ein Verhältnis der Unterordnung zu bejahen?
Um die Wechselbezüglichkeit zwischen Unterordnung und einer dafür kausalen vorliegenden Handlung herzustellen, müsste zunächst eine wie auch immer geartete Unterordnung festgestellt werden.
Die Prostituierten waren nicht verpflichtet, irgendwelche Dienstleistungen im Außenverhältnis zu erbringen. Die Prostituierten waren nicht verpflichtet, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu sein. Die Prostituierten konnten, sofern sie dieses wollten, in dem angemieteten Zimmer ihre Dienstleistung gegenüber den Freiern erbringen. Eine Verpflichtung für irgendwelche Dienstleistungen gegenüber dem Bordellbetreiber bestand nicht.
Es fällt nun sehr schwer, bei Nichtvorliegen eines Unterordnungs-verhältnisses eine Subsumtion über die kausale Handlung dafür zu finden. Es gibt dieses nicht.
Sodann ist darauf hinzuweisen , dass das Vorliegen einer gegen Entgelt erbrachten Dienstleistung im Sinne der vorgenannten Bestimmung für die Feststellung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (noch) nicht ausreicht. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass für die Feststellung, ob eine Dienstleistung so erbracht worden ist, dass diese Tätigkeit als gegen ein Entgelt erfolgt und somit als eine wirtschaftliche Tätigkeit anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 1987, Kommission/Niederlande, Rs. 235/85, EU:C:1987:161, Rn. 15), alle Umstände zu prüfen sind, unter denen die Tätigkeit erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 1996, Rs. C-230/94 „Enkler“, EU:C:1996:352, Rn. 27). Der Vergleich zwischen den Umständen, unter denen der Betreffende die fragliche Dienstleistung erbringt, und den Umständen, unter denen eine derartige Dienstleistung gewöhnlich erbracht wird, kann somit eine der Methoden darstellen, mit denen geprüft werden kann, ob die betreffende Tätigkeit eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 26. September 1996, Rs. C-230/94 „Enkler“, EU:C:1996:352, Rn. 28).
Unter diesem Gesichtspunkt wird regelmäßig geprüft, ob insoweit die Tätigkeit, die an sich der Umsatzsteuer unterfällt, eher ein einmaliger Vorgang ist, der es nicht rechtfertigen würde, diesen nicht dem Privatbereich zuzuordnen. Der Vorwurf, der sich aus dem Haftungsbescheid (oder der Anklage) ergibt, ist jedoch, dass die Durchführung der Prostitution im Hause des Bordellbetreibers sich über Jahre hinweg fortgesetzt hat. Die Durchführung der Prostitution ist jedenfalls bei einem solchen Zeitraum nicht eine einmalige oder höchst gelegentlich stattfindende umsatzsteuerfreie Gelegenheitsprostitution. Dieser Umstand wird immer unstreitig bleiben, denn wäre es der Fall, so müsste über die Frage einer Umsatzsteuer überhaupt nicht nachgedacht werden; die gesamten Umsätze wären dann keine wirtschaftliche Tätigkeit und würden damit nicht der Umsatzsteuer unterfallen.
Letztlich ist es wichtig festzustellen, dass aus der Sicht des Kunden stets eine Symmetrie des Ausgleichs zwischen Leistung und Gegenleistung bestanden hat. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte der Kunde nicht bezahlt oder hätte sich nicht auf den Prostitutionsvertrag eingelassen. Diese Symmetrie ist jedoch einverständlich zwischen den Prostituierten und den Freiern hergestellt worden. Der Bordellbetreiber konnte diese Symmetrie nicht einmal beeinflussen. Diese Symmetrie ist aber notwendige Voraussetzung, diese als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie ansehen zu können (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Oktober 2009, Kommission/Finnland, Rs. C-246/08, EU:C:2009:671, Rn. 51).
Das Gericht wird daher feststellen, dass die Prostituierten umsatzsteuerlich Unternehmerinnen sind.
Damit ist das Verfahren wegen der Haftung der Lohnsteuer nicht fortzuführen. (Die Anklage wegen Lohnsteuerhinterziehung entfällt.)
Dass die Rechtsauffassung der Finanzbehörde nicht haltbar ist, wonach Prostituierte keine Unternehmerinnen seien, ist bereits vom BFH in einem neuen Urteil sehr deutlich ausgedrückt worden. Der BFH formuliert in seinem Beschluss vom 16.06.2011, XI B 120/10, in der Rdnr. 8:
„Vielmehr ist nach der geltenden Gesetzeslage auch eine sexuelle Dienstleistung erbringende Prostituierte als Unternehmerin nach § 22 Abs. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes verpflichtet, zur Feststellung der Steuer und der Grundlagen ihrer Berechnung Aufzeichnungen zu machen.“
Es wird darauf hingewiesen, dass als Begründung „die Gesetzeslage“ genannt wird. Einschränkungen, dass die „Prostituierte“ nur unter einschränkenden Auslegungen als Unternehmerin zu qualifizieren sei, sind dem Urteil nicht zu entnehmen.
Vielmehr ist dem Urteil die Selbstverständlichkeit zu entnehmen, die sich auch aus der Anwendung der Richtlinie ergibt:
Prostituierte sind umsatzsteuerlich Unternehmerinnen.
Demnach sind diese keine Arbeitnehmerinnen. Mit dieser Aussage darf dann keine Haftung für Lohnsteuer erfolgen. (Eine Strafbarkeit wegen Lohnsteuerhinterziehung oder auch wegen des Vorenthaltens von Beiträgen zur Sozialversicherung entfällt.