2.5.1.1 Steuerverkürzung

In Absatz 4 des § 370 AO hat der Gesetzgeber Beispiele dafür gegeben, wann eine Verkürzung von Steuern vorliegt. Gegenstand der Verkürzung muss eine Steuer sein. § 3 Abs. 1 Satz 1 AO gibt eine Legaldefinition von Steuern. In Verbindung mit dem Anwendungsbereich der AO, § 1 Abs. 1 AO, lässt sich schlussfolgern, dass es sich nur um inländische Steuern und europäische Steuern, soweit diese in Deutschland verwaltet werden, handeln kann. § 370 Abs. 6 AO erweitert ferner den Anwendungsbereich, in dem er noch gewisse europäische Einfuhr- bzw. Ausfuhrabgaben einbezieht.

Grundsätzlich liegt eine Verkürzung von Steuern dann vor, wenn sich zwischen der festgesetzten Steuer und der korrekterweise festzusetzenden Steuer ein Saldo zuungunsten des Steuergläubigers ergibt. Die „Quizfrage“ ist dann stets, welche Steuer korrekterweise hätte festgesetzt werden müssen. Diese Frage lässt sich natürlich nicht anhand des § 370 AO überprüfen, sondern es müssen die jeweiligen Vorschriften des einschlägigen Steuergesetzes zu Rate gezogen werden. Aus diesem Grund ist das Steuerstrafrecht eine Aufgabe für Steuerstrafrechtsexperten: der Bearbeiter ist gezwungen, sich mit den jeweiligen Steuergesetzen auseinanderzusetzen!

Der vorstehende Grundsatz ist allerdings stark vereinfachend. Wie bereits bekannt, muss auch hier zwischen Veranlagungssteuern und Fälligkeitssteuern unterschieden werden. Für Veranlagungssteuern, welche die mengenmäßig größere Gruppe darstellen, hat dabei § 370 Abs. 4 Satz 1 AO eine Sonderregelung getroffen: So ist es schon ausreichend, dass die Steuer nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt wird. Dass dem Staat aufgrund der falschen Festsetzung ein zu niedriger Geldbetrag zufließt, spielt gar keine Rolle mehr, die Steuerstrafbarkeit setzt bereits viel früher an. Ebenso spielt es keine Rolle, ob der Steuerpflichtige überhaupt in der Lage ist, die korrekt festgesetzte Steuer zu zahlen. Erstaunlicherweise ist es für die Verwirklichung des Straftatbestandes auch unerheblich, wann die (korrekt festgesetzte) Steuer fällig wäre. (Bei der Einkommensteuer liegt der Fälligkeitszeitpunkt gemäß den Bescheiden meist mehr als einen Monat nach dem Erlassdatum.)

Beispiel: S hat im Jahr 2014 mehr verdient als erwartet, aber er unterlässt es immer wieder, seine Steuererklärung fertig zu stellen. Kurz vor dem 31.05.2015 überweist er jedoch schnell einen Geldbetrag an sein Finanzamt, der in etwa seine Steuernachzahlung abdecken soll. Erst am 10.10.2017 gibt er eine (korrekte) Steuererklärung ab, die Veranlagungsarbeiten sind schon längst abgeschlossen. Es stellt sich heraus, dass seine Zahlung für 2014 die nachzuzahlende Steuer tatsächlich voll abdeckt. Liegt eine Strafbarkeit des S vor?
S hat sich einer Steuerhinterziehung strafbar gemacht, denn die Einkommensteuer wurde nicht rechtzeitig festgesetzt.

Bei den Fälligkeitssteuern sind die Regelungen sogar noch strenger: Wird der Termin für die Zahlung versäumt, liegt eine Steuerverkürzung vor.
Wie aus den vorstehenden Erläuterungen zu den Fälligkeitssteuern deutlich wird, müssen aufgrund der Regelung des § 370 Abs. 4 Satz 1 AO zwei Alternativen zur Verkürzung unterschieden werden: Es erfolgt keine Steuerfestsetzung bzw. nicht rechtzeitig und es erfolgt eine zu niedrige Steuerfestsetzung. Diese Unterscheidung spielt nicht nur eine Rolle hinsichtlich der Unterschiede zwischen Veranlagungs- und Fälligkeitssteuern, sondern auch bei der Frage des Verkürzungszeitpunkts, das heißt, der Frage, wann der Verkürzungserfolg eingetreten ist. Der Eintritt des Verkürzungserfolges ist nämlich entscheidend dafür, ob sich die Tat noch im Versuchsstadium befindet oder ob schon ein vollendetes Delikt vorliegt.
Wird die Steuer zu niedrig festgesetzt, liegt mit Bekanntgabe des Bescheides die Tatvollendung vor. Wann tritt jedoch die Tatvollendung ein, wenn überhaupt keine Steuerfestsetzung ergeht bzw. sie verspätet ergeht? In solch einem Fall muss berechnet werden, wann die Steuerfestsetzung erfolgt wäre, hätte der Steuerpflichtige seine Steuererklärung rechtzeitig abgegeben.

Bei der Frage nach dem Beginn der Verjährung wird gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ein sehr früher Zeitpunkt als fiktive Tatvollendung bzw. Beginn des Laufs der Verjährungsfrist angenommen. Nunmehr führt aber der gleiche Grundsatz „in dubio pro reo“ zur entgegengesetzten Schlussfolgerung: Damit Unsicherheiten nicht zulasten des Straftäters gehen, muss für die Frage der fiktiven Vollendung ein möglichst später Zeitpunkt ausgewählt werden. Erst wenn dieser Zeitpunkt verstrichen ist, liegt kein Versuch mehr, sondern eine vollendete Steuerhinterziehung vor.

Um die für den Steuerpflichtigen günstigste Möglichkeit festzustellen, muss davon ausgegangen werden, dass dieser alle zulässigen Fristverlängerungen für die Abgabe seiner Steuererklärung ausgeschöpft hätte. Am Beispiel der Einkommensteuer würde dies bedeuten, dass der Steuerpflichtige seine Steuererklärung erst am 31.12. des Folgejahres abgegeben hätte. Denn bis zu diesem Datum erhalten Steuerpflichtige, deren Steuerklärungen von steuerlichen Beratern angefertigt werden, auf einfachen Antrag hin eine Fristverlängerung. Zusätzlich wird dann unterstellt, dass die Steuerklärung des Steuerpflichtigen als eine der letzten bearbeitet worden wäre. Um diesen Zeitpunkt festzustellen, bezieht man sich auf den wesentlichen Abschluss der Veranlagungsarbeiten in dem für den Steuerpflichtigen geltenden Veranlagungsbezirk. Die Arbeiten des Veranlagungsbezirks sind dann im Wesentlichen abgeschlossen, wenn 95 % aller Veranlagungen bearbeitet sind. Diesem Zeitpunkt werden dann noch die jeweiligen Bekanntgabefristen bei Steuerbescheiden (z. B. Drei-Tages-Fiktion) hinzugerechnet, um den Zeitpunkt der Wirksamkeit der Festsetzung genau festzustellen.

Eine solche Berechnung ist natürlich dann nicht erforderlich, wenn der Steuerpflichtige zwingend zu bestimmten Terminen Steuererklärungen abzugeben hat, dies ist besonders bei Steueranmeldungen der Fall. So sind die Termine für die Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen zwingend und nicht verlängerbar. Die Nichtabgabe führt automatisch zu einer vollendeten Steuerhinterziehung (auf Zeit) – die spätere Nachreichung der Anmeldung kann jedoch als strafbefreiende Selbstanzeige gewertet werden (sehr strittig).
Zur Feststellung der Höhe der hinterzogenen Steuern hat der BGH in einem Fall von Steuerhinterziehung durch Schwarzarbeit am Bau (Lohnsteuerhinterziehung) entschieden, dass es unter bestimmten Voraussetzungen im strafrechtlichen Verfahren zulässig ist, dass das Gericht den finanziellen Schaden mittels einer Schätzung bestimmen darf. Die hinterzogenen Schwarzlöhne können anhand einer branchenüblichen Lohnquote, die im entschiedenen Fall für das Baugewerbe vom BGH mit 66,66 % veranschlagt wurde, aus den monatlichen Nettoumsätzen hochgerechnet werden. Die so ermittelten Beträge wurden als Nettomonatslöhne für die Berechnung hinterzogener Lohnsteuer und hinterzogener Sozialversicherungsbeiträge zu Grunde gelegt. Nach Ansicht des BGH ist eine solche Schadensschätzung dann zulässig, wenn für eine konkrete Berechnung keine aussagekräftigen Beweismittel vorhanden sind und die Schätzung auf einer tragfähigen Grundlage beruht.