Die Verteidigung von Cum/Ex Mandanten

1. Einleitung
2. Cum/Ex-Sachverhalte – um was geht es?
3. Steuerliche Betrachtung
4. Strafrechtliche Betrachtung
5. Ergebnisse des Untersuchungsausschusses des Bundestages
6. Zusammenfassung

1. Einleitung

In unsere Praxis des Steuerstrafrechts ist die Beratung und Aufarbeitung der Cum/Ex Sachverhalte Gegenstand der anwaltlichen Verteidigung. Zum Erstverständnis dieses Problemkreises weisen wir unsere Mandanten auf dieses Grundausarbeitung der aktuellen Diskussion hin.

Der Bericht des 4. Untersuchungsausschusses des Bundestags vom 20.06.2017 über die sogenannten Cum/Ex-Geschäfte hat erneut das öffentliche Interesse an diesem Thema angeheizt. Insbesondere die Frage nach dem (verspäteten) Handeln des Gesetzgebers, der bereits im Jahre 2002 über diese Art von Geschäften und den daraus resultierenden Steuerausfall durch den deutschen Bankenverband informiert worden sein soll, aber erst zum 01.01.2012 (umfassende) gesetzliche Abhilfe geschaffen haben, erregt die Gemüter.

Daran knüpft die nicht nur steuerlich, sondern vor allem auch strafrechtlich entscheidende Frage an, ob es sich um ein vom Gesetzgeber toleriertes, legales Verhalten oder um die Ausnutzung einer Gesetzeslücke bzw. einen steuerlichen Gestaltungsmissbrauch handelt, und damit den Tatbestand der Steuerhinterziehung eröffnet. Während die (zwar noch recht spärliche) Rechtsprechung (vereinfacht ausgedrückt) damit argumentiert, dass die Ansicht, Kapitalertragsteuer könne doppelt angerechnet werden, obwohl sie nur einmal abgeführt wurde, “abwegig” sei und dem “Grundverständnis der Kapitalertragsteuer als Abzugssteuer” widerspreche, wird in der Literatur auch die Ansicht vertreten, dass wenn die damaligen (gesetzlich mangelhaften, vom Gesetzgeber aber trotz Kenntnis nicht geänderten) tatbestandlichen Voraussetzungen für die Kapitalertragsteueranrechnung nach §§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG, 31 Abs. 1 KStG erfüllt gewesen seien, auch die entsprechenden Steuerbescheide rechtmäßig seien und keinen Raum für eine steuerliche Strafbarkeit ließen.

Die Gefahr von Steuerausfällen sei dem alten Kapitalertragsteuersystem immanent gewesen und vom Gesetzgeber bis zum 31.12.2011 so hingenommen worden. Fehler des Gesetzgebers dürften nicht zu Lasten des Bürgers gehen und nicht mit den Mitteln des Strafrechts, das nur als ultima ratio in Betracht komme, korrigiert werden. Der 4. Untersuchungsausschuss des Bundestages, der im Februar 2016 eingesetzt wurde, um die Entstehung die Ursachen der Entstehung der Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkäufen um den Dividendenstichtag, die auf eine mehrfache Erstattung bzw. Anrechnung von Kapitalertragsteuer gerichtet waren, obwohl die Steuer nur einmal bezahlt wurde, zu untersuchen und zu klären, ob rechtzeitig und ausreichend Gegenmaßnahmen ergriffen worden sind, kommt in seinem Bericht hingegen zu dem Ergebnis, dass Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkäufen rechtswidrig seien und gegebenenfalls im Einzelfall auch strafbar sein könnten.

2. Cum/Ex-Sachverhalte – um was geht es?
Beschließt die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft wirksam die Höhe der zu zahlenden Dividende, entsteht der Dividendenanspruch der einzelnen Aktionärs, § 58 Abs. 4 Satz 1 AktG. Die Dividendenzahlung erfolgt in der Regel am Tag nach der Hauptversammlung, dem so genannten Ex-Tag (Kurszusatz: „Ex-Dividende“). Anspruch auf Dividende hat ein Aktionär nur, wenn seine Aktie am letzten Tag vor dem Ex-Tag in seinem Depotkonto verbucht war. Dieser letzte Tag vor dem Ex-Tag wird auch Cum-Tag genannt. Bei Aktienerwerb am Ex-Tag selbst besteht kein Dividendenanspruch mehr.

Von der dem Aktionär zustehenden Bruttodividende behält die Aktiengesellschaft die Kapitalertragsteuer ein und zahlt dem Aktionär lediglich die Nettodividende aus, in der Regel erfolgt die „Auszahlung“ durch Gutschrift bei der Depotbank des Aktionärs. Diese Depotbank stellte aufgrund der Gutschrift der Nettodividende eine Kapitalertragsteuerbescheinigung aus, mit der (betriebliche) Aktionär (welcher nicht der Abgeltungsteuer unterliegt) die Kapitalertragsteuer bei seiner Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer anrechnen lassen oder sich auszahlen lassen kann. Steuererhebungs- und Steuerbescheinigungsverfahren fielen also auseinander.

Wird nun eine Aktie vor der Hauptversammlung mit dem Dividendenanspruch (cum Dividende) verkauft (schuldrechtlicher Kaufvertrag), aber erst nach der Hauptversammlung geliefert (Gutschrift im Depot des Käufers = zivilrechtlicher Eigentumsübergang), so ist bei Lieferung der Aktie der Dividendenanspruch nicht mehr vorhanden (ex Dividende). Dies wird in der Art und Weise ausgeglichen, als dass der Verkäufer dem Käufer einen sogenannten Dividendenausgleichsanspruch („manufactured dividend“) in Höhe der Nettodividende zahlt, so dass der Käufer wirtschaftlich so gestellt ist, als wäre die Aktie auch mit Dividende geliefert worden. Dieser Dividendenausgleichsanspruch wird in der Regel – wie eine „echte“ Dividende – bei der Depotbank des Käufers gutgeschrieben. Ein interner Sperrvermerk bei der Depotbank des cum-Dividenden-Verkäufers (Inhabers) der Aktie verhinderte, dass die Kapitalertragsteuer doppelt ausgestellt wurde.

Kombiniert mit einem Leerverkauf funktionierte das Cum/Ex-Modell wie folgt:
Der Verkäufer verkauft die Aktie kurz vor dem Cum-Tag an den Käufer einschließlich Dividendenanspruch, besitzt zu diesem Zeitpunkt jedoch die Aktie (noch) nicht (Leerverkauf).
Am Cum-Tag entsteht der Dividendenanspruch beim (Noch-) Eigentümer der Aktie; am Ex-Tag wird die Dividende ausbezahlt (gutgeschrieben) und die Depotbank stellt dem Eigentümer die Kapitalertragsteuerbescheinigung aus. Ein Sperrvermerk ist beim Eigentümer nicht vorhanden, da dieser keinen Kaufvertrag über die Aktie abgeschlossen hat.

Der Verkäufer kauft die Aktie vom Eigentümer nach dem Cum-Tag, also ex Dividende, und liefert die Aktie an den Käufer ex Dividende. Der bei ihm aufgrund des Kaufvertrags eingetragene Sperrvermerk entfaltet keine Wirkung, da er keinen Dividendenanspruch hat.

Der Verkäufer zahlt dem Käufer darüber hinaus den Dividendenausgleich, da er die mit Dividendenanspruch verkaufte Aktie nur ohne Dividendenanspruch liefern kann. Der Käufer erhält daraufhin von seiner Depotbank die Kapitalertragsteuerbescheinigung, denn die Bank kann bei girosammelverwahrten Aktien nicht erkennen, dass zuvor ein Leerverkauf stattgefunden hat und für diese Dividende eine Kapitalertragsteuerbescheinigung auch an den Eigentümer ausgestellt wird, da die Bank davon ausgeht, dass dies durch einen Sperrvermerk verhindert wird.

3. Steuerliche Betrachtung
Als Ausgangspunkt dieser steuerlichen Betrachtung wird das Grundlagenurteil des BFH vom 15.12.1999 zur Frage des wirtschaftlichen Eigentums beim sogenannten Dividendenstripping gewählt. Nach diesem Urteil ist der Erwerber einer Aktie bereits mit Abschluss des Kaufvertrages als wirtschaftlicher Eigentümer im Sinne des § 39 Abs. 2 Nr. 1 AO anzusehen, auch wenn der tatsächliche (zivilrechtliche) Eigentumsübergang erst später stattfindet. Dieses Urteil bestätigte der BFH noch einmal ausdrücklich im Jahre 2007. (Das BMF hat im Jahr 2000 einen Nichtanwendungserlass zu dieser Entscheidung erlassen. )

Das bis zum 31.12.2011 geltende System des Kapitalertragsteuerabzugs sah vor, dass die Emittentin einer Aktie die gem. § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG anfallende Kapitalertragsteuer von der Bruttodividende einzubehalten und dem dividendenberechtigten Aktionär lediglich die Nettodividende auszuzahlen hatte. Wie eingangs bereits dargelegt stellte die Depotbank des Aktionärs nach Gutschrift der Nettodividende die Kapitalertragsteuererklärung gem. § 45a Abs. 3 EStG aus, die den (betrieblichen ) Aktionär zur Anrechnung (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG, § 31 KStG) bzw. Erstattung (§ 44a Abs. 7 und 8, § 44b Abs. 1 EStG) der einbehaltenen Kapitalertragsteuer berechtigte. Maßgeblich für die Kapitalertragsteueranrechnung nach §§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG, 31 Abs. 1 KStG war allein und ausschließlich die Vorlage dieser Steuerbescheinigung. Da beim Cum/Ex-Geschäft mit Leerverkauf zwei solcher Steuerbescheinigungen ausgestellt wurden, konnten auch zwei verschiedene Personen beantragen, diese -nur einmal einbehaltene und abgeführte- Kapitalertragsteuer anzurechnen bzw. zu erstatten.

Hierauf regierte der Gesetzgeber zunächst mit dem Jahressteuergesetz 2007 und stellte nicht nur die Dividende selbst, sondern auch die Dividendenausgleichszahlung steuerpflichtig durch eine Änderung des § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG Die Bank des (Leer-)Verkäufers hatte nunmehr die auf die Dividendenausgleichszahlung entfallende Steuer zu Lasten des Verkäufers abzuführen, praktisch wurde diese Steuer zugleich mit der Ausgleichszahlung dem Konto des Verkäufers belastet. Diese Regelung funktionierte jedoch nur, wenn inländische Banken beteiligt waren, da nur diese durch die Norm des § 44 Abs. 1 Satz 3 EStG gesetzlich verpflichtet werden konnten. Wurde das Geschäft des Verkäufers also über eine ausländische Bank (oder ohne eine Bank) durchgeführt, erfolgte keine Abführung der Steuer auf die Dividendenausgleichszahlung.

Das BMF erließ daraufhin im Mai 2009 ein Schreiben, wonach keine Anrechnung gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG, § 31 KStG und keine Erstattung gem. §§ 44a Abs. 7 und 8, 44b Abs. 1 EStG, § 11 Abs. 2 InvStG von Kapitalertragsteuer erfolgt, wenn Absprachen zwischen dem Leerverkäufer und dem Käufer bestehen, die einen wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen dem Leerverkauf und dem Kauf begründen. Weiterhin wurden neue Bescheinigungsverpflichtungen für Anrechnungs- und Erstattungsanträge eingeführt: rückwirkend ab 01.01.2009 müssen zusätzliche Angaben in der Steuerbescheinigung zu Kapitalerträgen aus Aktien, die „cum dividende“ erworben, aber „ex dividende“ geliefert wurden, erfolgen. Weiterhin muss die Bescheinigung eines Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers vorgelegt werden, wonach diesem nach dem ihm möglichen Einblick in die Unternehmensverhältnisse und nach Befragung des Steuerpflichtigen keine Erkenntnisse über Absprachen des Steuerpflichtigen im Hinblick auf den über den Dividendenstichtag vollzogenen Erwerb der gegenständlichen Aktien sowie entsprechende Leerverkäufe, bei denen die §§ 44 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 4 EStG keine Anwendung gefunden hat, vorliegen (sog. Berufsträgerbescheinigung).

Der BFH hat im Jahre 2014 seine Rechtsprechung aus 1999 zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums beim Handel mit Aktien (Cum/Ex-Geschäfte) für das Streitjahr 2008 (Rechtslage nach dem JStG 2007) dahingehend eingeschränkt, dass beim Aktienerwerb im Rahmen eines „initiierten und modellhaft auferlegten Gesamtvertragskonzepts“ der Erwerber zu keinem Zeitpunkt wirtschaftlicher Eigentümer der Aktie gemäß § 39 AO werde und schon mangels Einkunft im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht gem. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG anrechnen dürfe. Als nicht zweifelsfrei und umstritten bezeichnete der BFH die Frage, ob der Anteilserwerber auch im Fall eines sog. Leerverkaufs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses wirtschaftliches Eigentum erwerben kann, ließ die Frage jedoch mangels Relevanz für den Streitfall unbeantwortet.

Das BMF griff diese Formulierung des BFH in seinem Schreiben vom 24.06.2015 auf und legte seine Rechtsauffassung zum wirtschaftlichen Eigentum bei Leerverkäufen dar, wonach es mit den Grenzen einer Auslegung des § 39 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 AO nicht vereinbar sei, den Käufer aus einem Leerverkauf als wirtschaftlichen Eigentümer der Aktien zu betrachten. Der Dividendenausgleichsanspruch sei nur eine Kompensationsleistung und kein Gewinnanteil bzw. keine Dividende, und werde kraft einer gesetzlichen Fiktion mit einem sonstigen Bezug i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 EStG, gleichgestellt wird. Bloße schuldrechtliche Ansprüche aus einem Leerverkauf auf Verschaffung einer Aktie und einer Kompensationszahlung könnten kein wirtschaftliches Eigentum i. S. d. § 39 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 AO begründen.

Erst mit dem OGAW-IV-Umsetzungsgesetz erfolgte ab dem 01.01.2012 eine umfassende Regelung: Die Abzugsverpflichtung wurde verlagert auf das inländische Kreditinstitut, welches die Kapitalertragsteuer gutschreibt bzw. auszahlt, während die Aktiengesellschaft die Dividende nunmehr brutto an das Kreditinstitut überweist. Erfolgt die Gutschrift bzw. Auszahlung durch eine ausländische Stelle obliegt die Abzugsverpflichtung bei der letzten inländischen Stelle, die die Beträge an die ausländische Stelle weitergeleitet hat. Steuerabführungs- und Bescheinigungsverfahren liegen nunmehr zusammen bei der Depotbank des Kapitalertragsgläubigers, § 44 Abs. 1 Satz 3, 4 Nr. 3a und 3b EStG.

In der Folgezeit haben Finanzgerichte sowohl für die Zeit nach Inkrafttreten des JStG 2007, als auch für die Zeit Entscheidungen getroffen, die die Rechtsauffassung des BMF stützten.

Das Hessische Finanzgerichts ließ in einem Urteil aus dem Jahre 2016 (für das Streitjahr 2010) im Falle eines außerbörslichen Erwerb börsennotierter Aktien die Anrechnung an der mangelnden „Erhebung“ der Kapitalertragsteuer i.S. des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG scheitern. Eine „Erhebung“ der Kapitalertragsteuer i.S. des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG liege nicht bereits mit Auszahlung der Nettodividende/ Dividendenkompensationszahlung an die inländische Depotbank des Aktienkäufers vor, zusätzlich sei erforderlich, dass die mit der Nettodividende/Kompensationszahlung belastete Depotbank des Verkäufers den Bruttodividendenbetrag erhalten habe, von der die Steuer einzubehalten ist. Die Kapitalertragsteuerbescheinigung nach § 45a Abs. 2 oder 3 EStG liefere bei Zahlungen der Nettodividende durch eine inländische Depotbank lediglich einen Anscheinsbeweis für die Erhebung der Kapitalertragsteuer. Dieser sei erschüttert, wenn Aktien außerbörslich einschließlich eines Dividendenanspruchs erworben werden, deren Belieferung allerdings abweichend von der Vereinbarung erst nach dem Dividendenbeschlusstag erfolgt.

Zum wirtschaftlichen Eigentum bei Leerverkauf äußerte sich das FG wie folgt:
„Bei einem Leerverkäufer scheidet aber sowohl der unmittelbare Besitz an den Aktien als auch die Einräumung eines Besitzmittelungsanspruchs nach § 929 S. 2 BGB aus, weil er auch dazu im Besitz der Sache sein müsste bzw. ihm ein Herausgabeanspruch, zum Beispiel gegenüber der girosammelverwahrende Stelle (Clearstream) zustehen müsste, woran es aber mangels Wertpapieren in seinem Depot fehlt. (…) Im Falle eines Leerverkaufs erhält der Käufer jedoch gerade keine Dividende sondern eine Ausgleichszahlung, die im Ergebnis nichts anderes als eine Schadensersatzzahlung ist. Wenn aber weder ein Besitzmittelungsanspruch noch ein Besitzkonstitut zum Zeitpunkt des schuldrechtlichen Vertragsabschlusses wirksam übertragen werden kann und der Käufer nur eine Schadensersatzzahlung erhält, kann folgerichtig in diesen Fällen auch kein wirtschaftliches Eigentum übergehen.“

Wirtschaftliches Eigentum an den Aktien wird nach Ansicht des FG beim außerbörslichen Erwerb börsennotierter Aktien regelmäßig also nicht bereits mit Abschluss der schuldrechtlichen Vereinbarung erworben, vielmehr tritt der Eigentumsübergang erst im Zeitpunkt der Lieferung der Aktie ein.

Zur Frage des Zusammenhangs zwischen „Erhebung“ der Kapitalertragsteuer und deren Anrechnungsmöglichkeit führt das FG weiter aus: “Dass es zur Anrechnung der Kapitalertragsteuer als Erhebungsform der Körperschaftsteuer vergleichbar einer Steuervorauszahlung zunächst der Erhebung der Steuer bedarf, ist nach der Systematik der Anrechnung evident und Grundvoraussetzung für die Anrechnung der Abzugsteuer (…). Die Ansicht, eine Anrechnung von Abzugssteuern sei unabhängig von deren Erhebung möglich, ist abwegig und verstößt gegen den eindeutigen Wortlaut des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG. Gleiches gilt für die mehrmalige Anrechnung einmal erhobener Steuern.“

Das FG tritt auch dem Vorwurf entgegen, die Auflagen des BMF-Schreibens vom 05.05.2009 hinsichtlich der erforderlichen Berufsträgerbescheinigung würden gegen den Grundgesetzlich verankerten Gesetzesvorbehalt verstoßen und bezeichnet dieses als rechtsirrig. Das BMF-Schreiben schreibe nur einen bestehenden Rechtszustand fest und fordere in den beschriebenen Fällen des Leerverkaufs einen ergänzenden Geeignetheitsbeweis für die Erhebung der Kapitalertragsteuer; dieses Vorgehen sei aufgrund abweichender Praxiserfahrungen auch erforderlich.

In einem weiteren Urteil im Jahr 2017 (für das Streitjahr 2008) für das Hessische FG diese Rechtsprechung auch für den börslichen Handel fort: auch hier erfolge ein Übergang des wirtschaftlichen Eigentums nicht bereits mit Abschluss der schuldrechtlichen Verträge. Die juristische Auslegungsmethodik lässt nach Auffassung des FG ausgehend vom Wortlaut des § 39 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AO und der Regel-Ausnahme-Systematik der Norm nur eine einmalige Zurechnung eines Wirtschaftsgutes an ein Steuersubjekt zu. Mehrfaches wirtschaftliches Eigentum an Aktien sei denklogisch ausgeschlossen. Die Grundsätze des BFH in seinem Urteil vom 15.12.1999, I R 29/97, über einen vorzeitigen Übergang des wirtschaftlichen Eigentums von Aktien mit Abschluss des schuldrechtlichen Vertrages würden nur beim Verkauf durch einen privaten Bestandsverkäufer greifen. Ein Anspruch auf Anrechnung von Kapitalertragsteuer auf Dividendenausgleichszahlungen bestünde für den Aktienkäufer nicht, wenn durch die inländische Depotbank des Aktienverkäufers keine Kapitalertragsteuer erhoben wurde.

Für den Zeitraum vor Inkrafftreten des JStG 2007 (Streitjahr 1990) hat das FG Düsseldorf 2016 entschieden, dass der Leerkäufer kein wirtschaftliches Eigentum an Dividendenpapieren im Rahmen eines Cum-Ex-Geschäfts erwerbe und im kein Anspruch auf Anrechnung von Körperschaftsteuer und Kapitalertragsteuer zustehe.

4. Steuerstrafrechtliche Betrachtung
Steuerstrafrecht ist Blankettstrafrecht. Eine Steuerhinterziehung liegt gem. § 370 AO vor, wenn unter Verstoß gegen steuerliche Normen Steuern verkürzt oder ungerechtfertigte Steuervorteile erlangt werden. Als Tathandlungen sind (u.a.) genannt:

1. die unrichtige oder unvollständige Angabe steuerlich erheblicher Tatsachen gegenüber den Finanzbehörden
2. das pflichtwidrige in Unkenntnis lassen der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen

Eine Steuerstraftat verlangt m.a.W. stets ein steuerlich „falsches“ Verhalten. Wo der Steuerpflichtige sich steuerlich rechtmäßig verhält, ist kein Platz für strafrechtliche Erwägungen.
Bei der strafrechtliche Bewertung der Cum/Ex-Fälle mit Leerverkauf gehen die Ansichten über die Strafbarkeit auseinander, da die steuerliche Behandlung dieser Gestaltungen unterschiedlich vorgenommen wird.

Die Bundesregierung hat einen klaren Standpunkt: in ihrer Antwort vom 27.05.2013 auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. Wie folgt ausgeführt: „Bei Leerverkaufsgestaltungen, die über ein ausländisches Kreditinstitut abgewickelt wurden, besteht generell kein Anrechnungs- oder Erstattungsanspruch des (Leer-) Käufers. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der (Leer-)Käufer gut- oder bösgläubig ist. Es existiert daher keine „Gesetzeslücke“, sondern die betriebenen Modelle sind illegal.“

Sie sieht sich mit dieser Rechtsauffassung in Einklang mit „einzigen bisher zu Leerverkaufsgestaltungen ergangenen Entscheidung der Finanzrechtsprechung“ und bezieht sich dabei auf den Beschluss des Finanzgerichts Kassel vom 08.10.2012 in einem AdV-Verfahren (Streitjahre 2006 – 2008). Das FG Kassel hatte hinsichtlich der in diesem AdV-Verfahren streitigen Rückforderungsbescheide betr. angerechneter Kapitalertragsteuer die Auffassung vertreten, dass die Rückforderungen nach summarischer Prüfung rechtmäßig seien, weil der Steuerpflichtige die Anrechnung durch Angaben erwirkt habe, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gewesen seien (vgl. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO). Mit seinen Angaben in den Steuererklärungen und den vorgelegten Bescheinigungen habe der Steuerpflichtige zu Unrecht den Eindruck erweckt, dass anrechenbare Kapitalertragsteuer vorliege, um die die Körperschaftsteuerschuld zu mindern sei. Zwar erkannte das FG die Möglichkeit der doppelten Steuerbescheinigungen nach dem alten Kapitalertragsteuersystem und stellte auch fest, dass es für die „Erhebung“ der Kapitalertragsteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG a.F. nicht auf eine Abführung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer an das Finanzamt ankam, die Voraussetzungen für die Kapitalertragsteueranrechnung also erfüllt waren.

Dennoch verneinte es die Anrechnungsberechtigung des Steuerpflichtigen u.a. mit folgender Begründung:
„Die Ansicht der Antragstellerin, die Kapitalertragsteuer sei wegen der gesetzlichen Regelung auch ggf. doppelt anzurechnen, obwohl sie nur einmal abgeführt worden sei, ist abwegig. Sie widerspricht bereits dem Grundverständnis der Kapitalertragsteuer als Abzugssteuer. Die Kapitalertragsteuer ist keine Steuer eigener Art, sondern eine besondere Erhebungsform der Einkommensteuer in Form einer Einkommensteuervorauszahlung für Rechnung des Gläubigers bestimmter Kapitalerträge (BFH-Urteil vom 18.02.1970 I R 97/66, BStBl II 1970, 464). Die Rechtsprechung hat in ihren Entscheidungen die in § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 EStG getroffene Regelung stets „wirtschaftlich“ verstanden und die Einbehaltung der Kapitalertragsteuer als Grundvoraussetzung für deren Anrechnung angesehen (vgl. nur BFH-Urteil vom 23.04.1996 VIII R 30/93, BFHE 181,7; Urteil vom 20.10.2010 I R 54/09, BFH/NV 2011, 641). Diesen Grundsätzen widerspricht die formaljuristische Auslegung der Antragstellerin, die mit dem steuerrechtlichen Grundprinzipien der Anrechnung von Abzugssteuern nicht in Einklang zu bringen ist. Im Sachzusammenhang mit der Systematik der Anrechnung der Kapitalertragsteuer als Abzugsteuer ist eine Gesetzesauslegung dahingehend, dass eine Anrechnung erfolgen kann, ohne dass Abzugssteuern einbehalten wurden, nicht vertretbar. Es ist evident, dass als Vorauszahlung nur Steuern angerechnet werden können, die auch tatsächlich erhoben worden sind.

In der Literatur wird die Frage zumindest nach der Rechtslage vor 2007 durchaus auch anders beantwortet. So wird eine Gesetzlücke darin gesehen, dass die Ausstellung zweier Kapitalertragsteuerbescheinigungen für eine einmalige Erhebung der Steuer rechtlich möglich war und vom Gesetzgeber nicht (zeitnah) geschlossen wurde. Wenn der Gesetzgeber nicht ausreichend und rechtzeitig gegen Lücken vorgehe, dürfe jedenfalls das Strafrecht als ultima ratio nicht angewendet werden. Die Gefahr von Steuerausfällen sei dem alten Kapitalertragsteuersystem immanent gewesen und vom Gesetzgeber bis zum 31.12.2011 so hingenommen worden. Bereits aus diesem Grunde sei der Tatbestand einer Steuerhinterziehung nicht erfüllt. Aus dem Umstand, dass für die Anrechnung bzw. Erstattung der Kapitalertragsteuer lediglich die Vorlage der Kapitalertragsteuerbescheinigung erforderlich war, wird geschlossen, dass der Inhaber einer solchen Bescheinigung ohne weitere Voraussetzungen erfüllen zu müssen, zur Anrechnung/Erstattung berechtigt war.

Zudem habe es bis 2009 keine klare Verlautbarung seitens der Finanzverwaltung gegeben, wonach eine Anrechnung von Kapitalertragsteuer bei cum-ex-Transaktionen nicht möglich sein sollte. Erst mit BMF-Schreiben vom 05.05.2009 wurde eine Anrechnung als unzulässig eingestuft, wenn Leerverkäufer und Erwerber Absprachen getroffen hatten, die einen wirtschaftlichen Zusammenhang zwischen dem Leerverkauf und dem Kauf begründeten, was später dahingehend ausgeweitet wurde, dass bei Leerverkäufen um den Dividendenstichtag eine Anrechnung generell unzulässig sein sollte. Daher habe der Steuerpflichtige jedenfalls für vor dem BMF-Schreiben vorgenommenen Geschäften nicht von einer entgegenstehenden Ansicht der Finanzverwaltung ausgehen. Aber auch nach der Veröffentlichung des BMF-Schreiben sei aufgrund der entgegenstehenden Rechtsprechung und herrschende Meinung im Schrifttum die Rechtslage eindeutig gewesen, eine Offenlegungspflichten gegenüber dem Finanzamt bezüglich Leerverkäufen sei ausgeschlossen gewesen, und damit auch die Anwendung von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO (pflichtwidriges In-Unkenntnis-Lassen der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen).

Das Landgericht Köln (6. Große Strafkammer) hatte in einer Entscheidung aus dem Jahre 2015 über eine Beschwerde gegen einen Durchsuchungsbeschluss in einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen im Veranlagungszeitraum 2011 zu entscheiden. Es ging im Kern um den Vorwurf, dass die Beschuldigten – länderübergreifend organisiert und mit je unterschiedlicher Beteiligung – im Anschluss an “Cum-Ex”-Aktienkäufe nicht gerechtfertigte Steuervorteile in einer Gesamthöhe von über 462 Mio. Euro erstrebt haben sollen. Die Beschwerdebegründung führte im Wesentlichen an, dass die Anspruchsteller einen Anspruch auf Erstattung von Kapitalertragsteuer gehabt hätten, und daher kein nicht gerechtfertigter Steuervorteil erstrebt worden sei. Das LG verwarf die Beschwerde als unbegründet, da zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht der Steuerhinterziehung vorgelegen hätten.

Den tatsächlichen Anknüpfungspunkt für diesen Anfangsverdacht sah das LG in den Anträgen auf Erstattung von Kapitalertragssteuer: „Im Rahmen der Beantragung der Erstattung der Kapitalertragsteuer ist für die Antragsteller jeweils u.a. die folgende Erklärung abgegeben worden:
“Ich beantrage, die für die Erträge des im einzelnen auf der Rückseite des Antragsvordruckes unter Ziffer VII. bezeichneten Kapitalvermögens abgeführten Steuern in der in Spalte g) angegebenen Höhe zu erstatten.”
(Hervorhebung durch die Kammer).

Die bisherigen Ermittlungen deuten auf die durch Tatsachen untermauerte Möglichkeit hin, dass die Kapitalertragsteuer, deren Erstattung beantragt wurde, nicht einbehalten und abgeführt wurde, mit der Folge, dass gegenüber dem Bundeszentralamt für Steuern im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen zu Erlangung nicht gerechtfertigter Steuervorteile gemacht wurden.

Die Erstattung von Kapitalertragsteuer kann im Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Aktienkauf bei “Cum-Ex”-Geschäften unter den weiteren Voraussetzungen des § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG derjenige verlangen, der “Gläubiger der Kapitalerträge” ist und für den bzw. für dessen Rechnung die Steuer “einbehalten und abgeführt” worden ist. Das Vorliegen der Erstattungsvoraussetzungen ist hier nach den anfänglichen Ermittlungen im Sinne eines Anfangsverdachts zweifelhaft.“
Nach der Ansicht des LG Köln ergebe sich aus dem Grundprinzip des steuerlichen Erstattungsverfahrens, dass nur Kapitalertragsteuer erstattet werden kann, die zuvor auch abgeführt wurde.

Das LG stützt sich dabei auf die Rechtsprechung des BFH zum Erstattungsanspruch nach § 50d Abs. 1 S. 2 EStG, den es wie folgt zitiert:
“Der Gesetzeswortlaut belässt sonach keinen Zweifel daran, dass die Erstattung nicht nur erfordert, dass die Abzugssteuer einbehalten, sondern dass sie auch tatsächlich an das Finanzamt abgeführt worden sein muss. (…) Wortlaut, Regelungszweck und Sachzusammenhang der Vorschrift sind sonach eindeutig: ohne eine vorhergehende Abführung der Abzugssteuer kann eine Erstattung nicht erfolgen.”

Dem Einwand, der Gesetzgeber habe die ihm zur Kenntnis gelangte Möglichkeit, dieses Grundprinzip zu unterlaufen und eine unberechtigte Kapitalertragsteuererstattung zu erlangen, erst mit dem OGAW-IV-Umsetzungsgesetz mit Wirkung ab dem 01.01.2012 unterbunden hat, entgegnet das LG, dass dies „allenfalls von der (vermeintlichen) Machtlosigkeit des Gesetzgebers angesichts der von einigen Marktteilnehmern im Zusammenhang mit Leerverkäufen rund um den Dividendenstichtag entwickelten Gestaltungsmodelle“ zeuge.

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahre 2017 über Beschwerden gegen Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen im Zusammenhang mit Cum/Ex-Geschäften des LG Wiesbaden zu prüfen und verwarf diese als unbegründet, weil „der Tatverdacht der besonders schweren mittäterschaftlichen Steuerhinterziehung gegeben sei, sind verfassungsrechtlich (Art. 103 Abs. 1, Art. 103 Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 und 2, Art. 12 GG) nicht zu beanstanden“ sei. Eine Begründung enthält der Beschluss nicht. Damit scheinen jedenfalls grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken einer möglichen Strafbarkeit der Cum/Ex-Geschäfte nicht entgegen zu stehen.

5. Ergebnisse des Untersuchungsausschusses des Bundestages
a) Die Bewertungen des Untersuchungsausschusses
Der 4. Untersuchungsausschuss des Bundestages kommt auf ca. 380 Seiten seines Untersuchungsberichtes vom 20.06.2017 zu dem Ergebnis, dass Cum/Ex-Geschäfte mit Leerverkäufen rechtswidrig seien:
„Das deutsche Steuerrecht bot in den Jahren 1999 bis 2012 zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, eine einmal einbehaltene Kapitalertragsteuer in rechtmäßiger Weise mehrfach anrechnen beziehungsweise erstatten zu lassen. Eine Gesetzeslücke hat insoweit nicht bestanden.“

und

„Für den Ausschuss steht fest, dass die Generierung und die Aufteilung dieses Vorteils durch die von den Cum/Ex-Akteuren gewählten Gestaltungen soweit als möglich verheimlicht und verdeckt abgewickelt wurden. Durch die Gestaltungen wurde gezielt das damalige Verfahren der Abwicklung der Börsengeschäfte, insbesondere das technische System zur Abführung und Anrechnung der Kapitalertragsteuer, ausgenutzt.“

Unter strafrechtlichen Aspekten sieht der Ausschuss klar die Möglichkeit, dass im Einzelfall der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt sein könne: “Der Ausschuss betont die Auffassung der Strafverfolgungsbehörden und des BVerfG (2 BvR 1163/13), dass bei einer Cum/Ex-Gestaltung mit Leerverkauf der objektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung nach § 370 AO vorliegen kann. Diese rechtliche Würdigung ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus Sicht des Ausschusses überzeugend. Da die strafrechtliche Beurteilung der Sachverhalte allerdings eine strikte Einzelfallbetrachtung erfordert und diese Aufgabe der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen ist, enthält sich der Ausschuss einer weitergehenden Bewertung.“

Die Hauptschuldigen an der Ausnutzung der Rechtslage durch die Cum/Ex-Gestaltungen sind nach Ansicht des Untersuchungsausschusses u.a. Rechtsanwälte, Steuerberater und andere Finanzmarktakteure, während dem BMF bescheinigt wurde, nach ersten Hinweisen auf rechtsmissbräuchliche Gestaltungen im März 2009 beim Ergreifen von Gegenmaßnahmen „strukturiert und zügig agiert“ zu haben.

b) Die Sondervoten
So klar und eindeutig die Ergebnisse in den Formulierungen des Untersuchungsausschusses scheinen, sind sie offenkundig jedoch nicht. In dem Sondervotum der Fraktion DIE LINKE. ist die Rede von Versäumnissen staatlicher Stellen und dem dort offenbar fehlenden nötigen Sachverstand, die Hinweise des Bundesverbandes deutscher Banken von 2002 vollständig zu erfassen, sowie von einem fehlendem grundlegenden Verständnis für die Problematik Cum/Ex, von massivem Organisationsversagen im Geschäftsbereich des BMF ab Herbst 2009 sowie teuren Verzögerungen und einer ungeeigneten Herangehensweise. Die Landesparlamente werden aufgefordert, die „skandalöse Mitwirkung von Landesbanken an kriminellen Geschäften aufzuklären und die Verantwortlichen zu ermitteln“.

Auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNE bescheinigt in ihrem Sondervotum eine dilettantische Bearbeitung der Steuergestaltungen um den Dividendenstichtag durch die Finanzverwaltung. Es habe vor dem öffentlichen Druck, der im April 2015 durch die Presseveröffentlichungen entstanden und durch die sukzessiven Erkenntnisse zu Cum/Ex und Cum/Cum stetig gewachsen sei, „kein Interesse innerhalb von Bundesregierung, BMF, BZSt oder BaFin, das Problem des massiven Steuerausfalles zu lösen“. So habe es u.a. der Steuerabteilung des BMF im fraglichen Zeitraum an gut ausgebildetes Personal gefehlt, und anstatt die staatliche Expertise in den Ländern oder nachgeordneten Behörden zu nutzen, habe sich die Steuerabteilung auf die kostenlos bereitgestellte Expertise der Branchenverbände verlassen. Zudem sei der Gesetzgeber (speziell der Finanzausschuss) im Zuge des Jahressteuergesetzes 2007 nicht vollständig über die Problematik der Cum/Ex-Sachverhalte informiert worden, so dass es eine Debatte über diese Problematik nicht gegeben habe. Dies zeige „strukturelle Probleme, denen sich der Bundestag stellen muss, wenn er sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, unkundiger Erfüllungsgehilfe des BMF statt starker Vertreter des Souveräns zu sein“.

6. Zusammenfassung
Unabhängig von der politischen Aufarbeitung der Cum/Ex-Sachverhalte stellt sich für den einzelnen Beteiligten die Frage, nach der realen Gefahr einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung. Diese muss angesichts der bisher erkennbaren Tendenz der Rechtsprechung, die Rechtswidrigkeit der steuerlichen Gestaltung zu bejahen und damit den Anwendungsbereich der Blankettnorm des § 370 AO zu eröffnen, bejaht werden.

Richtig ist sicherlich, dass in jedem Einzelfall die Erfüllung des Straftatbestandes in allen Punkten zu prüfen ist. Richtig ist aber auch, dass bei Vorliegen eines Anfangsverdachtes bzw. eines hinreichenden Tatverdachtes das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren mit all seinen Instrumentarien, wie z.B. Hausdurchsuchung, grundsätzlich eröffnet ist. Eine fachkundige anwaltliche Beratung sollte daher bereits im Vorfeld in Anspruch genommen werden, nicht erst, wenn die Fahndungsbeamten eines Morgens vor der Türe stehen.