Strafbarkeit wegen grenzüberschreitender Umsatzsteuerhinterziehung I

Einer Kanzlei, die sich auf die Vertretung in steuerlichen Dingen spezialisiert hat, werden immer wieder auch die strafrechtlichen Verteidigungen und die Vertretungen im finanzgerichtlichen Verfahren bezüglich grenzüberschreitenden Handlungen angetragen. Das internationale Steuerstrafrecht ist faktisch nationales Steuerstrafrecht aus grenzüberschreitenden Handlungen. Der Bereich der Kollision der ertragsteuerlichen  Komponenten wird in einem eigenen Artikel aufgearbeitet.

Hier soll es ausschließlich um die internationales Aspekte der Umsatzsteuer gehen. Insbesondere die Karusselgeschäfte sind oftmals Gegenstand der Strafverfolgung wegen der Umsatzsteuer. Die Argumentationen der Finanzverwaltung sind immer auf den zusätzlichen Ertrag zugunsten der deutschen Kasse ausgerichtet. Diese Argumention ist jedoch häufig nicht stichhaltig, die nachfolgenden Ausführungen zeigen solche Systembrüche. Die Ausführungen zeigen aber auch deutlich auf, wie tief eine kompetente Verteidigung  einsteigen muss, damit eine ernsthafte Auseindersetzung verwirklicht wird.

 

  1. Darstellung des Grundproblems

Brennpunkt der grenzüberschreitenden Steuerhinterziehung ist die Strafbarkeit aus der Hinterziehung der Umsatzsteuer. Mit der Einführung des EU Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 wurde die Richtlinie über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem der teilnehmenden Staaten eingeführt. Inzwischen ist Grundlage die Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuersystemrichtlinie). Daneben gilt die Verordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem.

Damit liegt der etwas seltsame Befund vor, dass die Mehrwertsteuersystemrichtlinie in Deutschland kein geltendes Recht ist, die Durchführungsverordnung aufgrund der Regelung des Art 288 Abs. 2 AEUV allerding schon.

Hinzuweisen ist sofort darauf, dass im Gegensatz zum Zollrecht in der EU mit einem unionsweiten Zollgebiet und einem einheitlichen Zollkodex sowie einer Zollkodex Durchführungsverordnung, es im Bereich der Umsatzsteuer nur den Umsetzungs- und Harmonisierungsauftrag aus der zuvor benannten Mehrwertsteuersystemrichtlinie  gibt. Umsatzsteuerrecht ist demnach immer nur nationales Recht.

Umgesetzt wurden diese Anforderungen in Deutschland durch das Umsatzsteuergesetz. In den anderen europäischen Ländern sind die vorgenannten europäischen Normen entsprechend in nationale Gesetze umgesetzt worden. Entsprechend diesen Unionsvorgaben wurde die Umsatzsteuer als Allphasensteuer in Form der Mehrwertsteuer mit Vorsteuerabzug gestaltet. Die Steuer wird, obwohl es sich um eine Verbrauchsteuer handelt, als indirekte Steuer vom Unternehmer, der den Endverbraucher beliefert, erhoben. Zwischen den Unternehmern gilt das Nettoumsatzsystem mit Vorsteuerabzug. Der Unternehmer darf also von der Umsatzsteuer, die er in Rechnung stellt, die Umsatzsteuer die ihm in Rechnung gestellt wurde als Vorsteuer abziehen. Den Differenzbetrag führt er als Zahllast an die Finanzbehörde ab.

Dieses System hat sich schnell als betrugsanfällig herausgestellt. Man hat geglaubt, dass es eine ausreichende Sicherheit sei, wenn die Firmen die Umsatzsteueridentifikationsnummer (USt-IdNr.) des ausländischen Abnehmers in der zusammenfassenden Meldung anzugeben haben und im Folgenden die Umsatzsteuervoranmeldungen des Abnehmers auf Differenzen hin überprüft werden. Das bei der Umsetzung, als Ersatz für die bis dahin tätige Zollverwaltung, neu eingeführte System zur Überwachung des Warenverkehrs (MIAS) konnte keine ausreichenden Kontrollen herstellen.

Die Bekämpfung der Umsatzsteuerhinterziehung, die in Europa inzwischen als Milliardenverlust betrachtet wird[1] ist ein immer wieder diskutiertes Ziel der Europäischen Gemeinschaft.[2]

 

  1. Spezielle Probleme bei der Steuerhinterziehung in Bezug auf die Umsatzsteuer

 

a. Grundkonstellation

Einfache Formen der grenzüberschreitenden Umsatzsteuerhinterziehung ergeben sich, indem aus einem anderen Mitgliedstaat der EU ein innergemeinschaftlicher Erwerb durchgeführt wird. Ein derartiger innergemeinschaftlicher Erwerb ist als innergemeinschaftliche Lieferung gemäß §§ 4 Nr.1b, 6a UStG steuerbefreit. Aufgrund dieser Regelung war und ist es möglich, Reimporte aus anderen EU-Staaten, steuerehrlich aber begünstigt nach Deutschland einzuführen. Soweit Produkte  in anderen Staaten einen begünstigten Verkaufspreis haben, können solche Reimporte durchgeführt werden. Soweit allerdings die ausländischen Produkthersteller (Automobilmarken)  nicht grenzüberschreitend verkaufen wollen, muss eine Zwischengesellschaft eingeschaltet werden. Um allerdings das Preisniveau (den liquiden Betrag) für den deutschen Einkäufer gleich zu halten, musste dieser Zwischenhändler nun eine Rechnung ausstellen, bei welcher der von ihm ve

Aufgrund dieses Effekts, der ab 1994 zu beobachten war, konnten nicht nur Händlersperren von Automobilen umgangen werden, auch Mikroprozessoren, echte oder gefälschte, konnten verbilligt eingeführt werden. Letztendlich wurde das System auf eine Vielzahl von typischen Produkten angewandt¸ zuletzt sind Gold und Edelmetallimporte ebenso genannt wie Emmissionsrechte.

Ausgehend von diesem einfachen System wird zwischen Kettenbetrugsfällen und Umsatzsteuerkarussell unterschieden. In beiden Fällen wird eine Vielzahl von Unternehmen eingeschaltet. Das erste Glied ist immer der Missing Trader, die weiteren Unternehmen sind die so genannten Buffer, das letzte Unternehmen ist der Distributor. Sowohl der Missing Trader als auch der erste Buffer sind oftmals nicht lange am Markt tätig.

In den Ketten-Betrugsfällen  geht die Ware vom Distributor über verschiedene Händler an die Verbraucher, in den Umsatzsteuerkarussellfällen geht die Ware wieder in das Ausland zurück, um sodann den Kreislauf erneut zu durchlaufen.

Der Gewinn sei im folgenden Beispielsfall dargestellt:

Im Umsatzsteuerkarussell wird aus einem anderen Mitgliedstaat der EU Ware erworben. Diese ist als innergemeinschaftlicher Erwerb von der Umsatzteuer befreit. Der Erwerber, der Missing Trader, verkauft die Ware sodann an einen Dritten und stellt diesem Umsatzsteuer in Rechnung. Der Empfänger dieser Rechnung lässt sich vom Finanzamt den in der Rechnung enthaltenen Vorsteuerbetrag erstatten. Er selbst verkauft sodann die Ware, wiederum als innergemeinschaftlichen Erwerb, steuerfrei in das Ausland an den ursprünglichen Distributor (In/Out-Buffer). Damit ist die Ware am Ausgangsort und kann diesen Kreislauf erneut durchlaufen. In diesem Kreislauf können gutgläubige oder bösgläubige Marktteilnehmer als Buffer (in/Out Buffer) auftreten.[3]

Im Ergebnis handelt es sich um eine künstliche Verbilligung der Ware durch den Missing Trader, indem die  vereinnahmte Umsatzsteuer nicht abgeführt wird. Da er selbst keine Umsatzsteuer entrichten muss – aufgrund der Steuerbefreiung – ist es ihm möglich, die Ware zu einem viel günstigeren Preis anzubieten, als er selbst bezahlt hat.[4]

b. Folgen

Der Missing Trader begeht eine Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er den sich aus dem Weiterverkauf der Ware an den Buffer ergebenden Umsatz an das Finanzamt nicht erklärt und dementsprechend nicht abführt.

Die anderen Glieder der Kette, soweit sie vorsätzlich handeln, machen sich einer eigenen Steuerhinterziehung als Täter oder Mittäter nach § 370 AO strafbar.

c. Reverse Charge § 13b UStG

Ab dem 1. Januar 2002 hat der deutsche Gesetzgeber § 13b UStG in das Gesetz eingefügt. Die Vorschrift regelte zunächst die Schuldnerschaft des Leistungsempfängers, das sog. Reverse-Charge-Verfahren. Insbesondere für Tatbestände, die bisher unter das Abzugsverfahren gemäß §§ 18 Abs. 5 UStG, 51- 58 UStDVO fielen, wurde diese Regelung eingeführt. Ziel war es, die Steuerausfälle der Baubranche durch ausländische Unternehmen zu vermeiden. Durch das neue System hatte der Leistungsempfänger und nicht der Leistende die Umsatzsteuer einzubehalten und abzuführen. Es wurde von einer Umkehr der Schuldnerschaft gesprochen. Innerhalb dieses Systems vereinen sich die Umsatzbesteuerung und der Vorsteuerabzug im gleichen Steuersubjekt. Damit ist es faktisch unmöglich einen Vorsteuerabzug zu erhalten, ohne gleichzeitig die Umsätze zu versteuern. Mit dieser Systematik wäre der Umsatzsteuerbetrug nicht mehr möglich.[5]

 

Die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens war nicht richtlinienkonform; vgl. Art. 21 Abs.1 der 6. EG Richtlinie. Daher hat Deutschland gemäß Art. 22 der 6. EG Richtlinie eine Ermächtigung zur Abweichung beantragt. Diese hat Deutschland durch Entscheidung des Rates vom 30.3.2004 erhalten[6].

Der § 13b UStG ist am 1.4.2004 in Kraft getreten. Die Vorschrift ist im Laufe der Jahre auf bestimmte Umsatzarten erweitert worden. Mit ursprünglich drei Nummern, umfasst § 13b Abs.2 UStG aktuell 11 Nummern.

Hinzuweisen ist besonders auf Nummer sechs (Handel mit Emissionsrechten) ab dem 1.7.2010. Zum 1.1.2011 wurden die Nrn. sieben, acht und neun eingeführt; hierbei handelt es sich insbesondere um die Besteuerung von Schrott und Gold. Seit dem 1.7.2012 gehören auch die Lieferungen von Mobilfunkgeräten und Mikroprozessoren als Nummer 10 zum Verfahren des § 13 b UStG. Ab dem 1.10.2014 sind Edelmetalle und unedle Metalle ebenfalls über die Nummer 11 dem Verfahren zu unterwerfen.

Der Markt hat sich durch diese Umkehr der Steuer-Schuldnerschaft erheblich verändert.

Durch die Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens bei den Emissionsrechten ab dem 1.7.2010 normalisierte sich der Handel wieder auf das Niveau von vor 2009.[7] Das von Experten befürchtete Überschlagen der betrügerischen Machenschaften auf den Handel mit Strom und Gas hat nicht stattgefunden. Hier wird vermutet, dass die Verhaltensweise der Börse EEX in Leipzig, die hohe Anforderungen an eine Registrierung zum Handeln stellt, faktisch eine unüberwindbare Barriere darstellt.

In anderen Bereichen muss man jedoch feststellen, dass die Täter auf andere Waren ausgewichen sind. Statt Schrott wurde Edelmetall oder Kupferkathoden gehandelt. Statt Gold wurde Silber oder Goldschmuck gehandelt. Statt Handys wurde auf Tablet-PC´s umgestellt.

Auch wenn durch Gesetzesveränderungen den einzelnen Punkten entgegengewirkt wurde, muss festgestellt werden, dass die Bestimmungen des Reverse-Charge immer nur einzelne Produktgruppen ergreifen kann. Da die Kriminalität der Umsatzsteuerbetrüger sich nicht innerhalb einer Branche aufhält, sondern diese stets bereit sind die Branche zu wechseln, findet sich immer ein neues und anderes Produkt um diesem Verfahren zu entgehen.[8]

d. Frühere Probleme der strafrechtlichen Verfolgung

Eine Verurteilung aus steuerstrafrechtlichen Gesichtspunkten war lange Zeit nicht möglich. Die Distributoren und Buffer in der zweiten und oder dritten Stufe wurden nämlich gerade nicht von verschwundenen Scheinfirmen beliefert. Vielmehr war der Buffer 1 regelmäßig vorhanden, war steuerlich erfasst und kam seinen Steuerpflichten nach. Auch die Waren wurden real geliefert und über Kontenverbindungen unbar bezahlt. Dadurch waren alle Voraussetzungen an eine innergemeinschaftliche Lieferung gegeben und damit die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes gemäß § 6a Abs. 4 UStG erfüllt.

Ein Angriff bezüglich eines steuerstrafrechtlich relevanten Verhaltens konnte also in den davor liegenden Jahren (bis 2009) nur dann erfolgreich geführt werden, wenn die Finanzverwaltung den jeweils Beteiligten individuell den subjektiven Tatbestand nachweisen konnte. Hierzu musste die Strafverfolgungsbehörde im Zweifel Telefonüberwachungen durchführen um nachzuweisen, dass eine Absprache auch zwischen den Buffern zwei und drei und dem Distributor mit dem Missing Trader durchgeführt wurde, um sich gemeinsam an der Umsatzsteuerhinterziehung zu beteiligen. Die bloße Vermutung, dass diese in ein Umsatzsteuerkarussell eingebunden waren, führte strafrechtlich nicht zu einer Verurteilung.

Beklagt wurde weiter, dass die Ermittlung in Fällen des “Conduit Trading”, es handelt sich um innergemeinschaftlichen Erwerb mit anschließender Innergemeinschaftlicher Lieferung, sich als schwierig erwiesen hätte. In derartigen Fällen fällt keine deutsche Umsatzsteuer an. Richtigerweise ist zuzugeben, dass für die in Deutschland ansässigen Mittäter eine Bestrafung wegen Umsatzsteuerhinterziehung in anderen Mitgliedstaaten in Betracht kommt.  In diesen Fällen geht die Ware als innergemeinschaftliche Lieferung an Missing Trader ins EU Ausland.

Ebenfalls beklagt wurde, dass bei Ermittlungen die ausländischen Behörden das SCAC- Auskunftsersuchen[9] (Standard Carrier Alpha Code) lediglich damit beantworteten, dass der angefragte Unternehmer dort die entsprechenden Erwerbe nicht versteuert hat, also ein Missing Trader ist. Mit dieser Aussage ließ sich jedoch nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich bei der angefragten Firma nicht um den Abnehmer gehandelt hat.

Steuerrechtlich hat die Strafverfolgungsbehörde nicht immer die erhoffte Hilfe der Finanzgerichte erhalten. Das Finanzgericht Baden-Württemberg[10] hatte beispielsweise entschieden, dass einem Buffer 2 der Vorsteuerabzug des Buffer 1 zu gewähren ist, obwohl gleichzeitig feststand, dass die fragliche Ware bis zu siebenmal bei genau dieser Firma durchgelaufen war und der Unternehmer dieses wusste.

Die Entwicklung der Berufung auf die Vorschriften des Umsatzsteuerrechtes und deren Beurteilung hat sich insbesondere in den Jahren nach 2006 bestimmend entwickelt. Dies ist zum einen auf die  Rechtsprechung des EuGH zurückzuführen, dieses wird unter Punkt 4 dargestellt. Zum anderen  hat sich das deutsche Umsatzsteuergesetz bei der formellen Frage des Nachweises bei grenzüberschreitenden Lieferungen entwickelt. Dieses formalen Aspekte werden zunächst unter Punkt 3 dargestellt.

 

  1. Die Entwicklung des Nachweis zur Steuerbefreiung

Die Steuerfreiheit für innergemeinschaftliche Lieferungen ergibt sich aus § 6a UStG. Diese Norm ist daher der Dreh- und Angelpunkt für die oben gezeigten Fälle des Umsatzsteuerkarussells. Voraussetzungen der Steuerbefreiung nach dieser Norm sind, dass der Liefergegenstand im Rahmen der Lieferung grenzüberschreitend in einen anderen Mitgliedstaat transportiert wird (§ 6a Abs. 1 Nr. 1 UStG);  weiterhin, dass der Abnehmer ein erwerbsteuerpflichtiger Abnehmer, also im Regelfall ein Unternehmer ( § 6a Abs.1 Nr. 2 UStG) ist und letztlich beim Abnehmer einer Umsatzbesteuerung unterliegt § 6a Abs.1 Nr. 3 UStG).

Noch im Jahre 2007 hatte der europäische Gerichtshof festgestellt, dass weder die Steuerehrlichkeit noch die Tatsache, ob tatsächlich eine Besteuerung im Bestimmungsland erfolgt, eine Tatbestandsvoraussetzung der Steuerbefreiung darstellt.[11]

Die Voraussetzungen der Steuerfreiheit im Ursprungsland müssen vom Unternehmer nachgewiesen werden (§ 6a Abs.3 UStG). Aufgrund der Ermächtigungsgrundlage in dieser Norm wurden die Voraussetzungen des Nachweises für die Steuerfreiheit des § 6a UStG in § 17 UStDVO (Umsatzsteuerdurchführungsverordnung) niedergelegt.

Sowohl die Ausfüllung dieser steuerbefreienden Norm als auch die Fassung der Umsatzsteuerdurchführungsverordnung ist im Laufe der Jahre immer wieder aufgegriffen worden. Eine stringente Aussage für die Zeiträume die den verschiedenen strafrechtlichen Urteilen zu Grunde lag ist kaum auszumachen.

Zunächst wurden im Jahre 2009 die Voraussetzungen für eine Steuerfreiheit bei der vorgenannten Norm durch ein BMF-Schreiben erheblich verschärft.[12] Diese Verschärfung des Gesetzes durch bloßes BMF Schreiben hielt vor Gericht nicht und wurde daher vom BFH zurückgewiesen.[13] Anschließend trat zum 01.01.2012 eine Gesetzesänderung der UStDV in Kraft[14], in Folge dessen die USt-ID als materielle Voraussetzung weiterhin bestehen blieb. Nachdem der EuGH[15] und daraufhin der BFH[16] diese Vorrausetzung als bloß formelle Voraussetzung zur Steuerfreiheit eingestuft haben, erließ das BMF eine Nichtbeanstandungsregel[17], die so lange zu gelten hatte, bis sich die UStDV-Rechtslage erneut ändert. Zum 01.10.2013 kam dann die Änderung[18] und vereinfachte den Nachweis der Voraussetzungen für die Steuerfreiheit.

 

Im einzelnen kam es je nach Rechtsauffassung darauf an, ob zur Steuerfreiheit die bloße Erfüllung der Voraussetzungen des § 6a UStG ausreichend ist, oder ob der in § 17 UStDVO formulierte Nachweis notwendige Voraussetzung der Steuerfreiheit ist. Streitig war auch, zu welchem Zeitpunkt die dann jeweiligen Voraussetzungen vorliegen mussten. Zum einen wurde der Standpunkt vertreten, dass alle die Voraussetzungen bei der jeweiligen Umsatzsteuererklärung vorliegen mussten, nach anderer Ansicht reicht es aus wenn diese Voraussetzung im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des finanzgerichtlichen Streites[19] vorgelegen haben. Je nachdem, welcher Qualifikation der Nachweiseverpflichtung man zuneigte war nicht nur die Steuerbefreiung gegeben sondern dieses gefunden Ergebnis war dann Anknüpfungspunkt für die Frag der Strafbarkeit. Man erhob damit die Durchführungsverordnung zur Strafrechtsnorm.

Erinnert sei bereits jetzt daran, dass Normen der Strafbarkeit einem Gesetzesvorbehalt unterliegen. Die Durchführungsverordnung war aber nur eine aufgrund der Ermächtigungsgrundlage in § 6a Ab. § UStG vorgenommen Maßnahme bei der das Bundesministerium der Finanzen mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung bestimmt wie der Unternehmer den Nachweis zu führen hat. Das ist keine Maßnahme des Gesetzgebers.

 

  1. Die Entwicklung der Rechtsprechung bei dem EuGH seit dem„Optigen Urteil“ [20]

In den verbundenen Rechtssachen C-354/03, C-355/03 und C-484/03, betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidungen vom 28. Juli 2003 (C-354/03 und C-355/03) und 27. Oktober 2003 (C-484/03), beim Gerichtshof eingegangen am 18. August 2003 bzw. 19. November 2003, in den Verfahren Optigen Ltd (C-354/03), Fulcrum Electronics Ltd (C-355/03), Bond House Systems Ltd (C-484/03) gegen Commissioners of Customs & Excise war die Frage aufgeworfen worden, ob die Beurteilung des Rechts eines Händlers auf Vorsteuerabzug im Karussell lediglich Bezug nehmen sollte auf die einzelnen Umsätze oder ob eine Betrachtung der Gesamtheit der Umsätze, die eine kreisförmige Lieferkette bildeten, vorzunehmen und  somit das Handeln im Karussell als eine “wirtschaftliche Tätigkeit” im Sinne der Richtlinie 77/388/EWG zu beurteilen sei.

Es ging damit um die Frage, ob ein Umsatzsteuerkarussell am wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.

Das Gericht wies auf die objektive Definition der Gesetze hin und formulierte weiter, dass “Umsätze, wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die nicht selbst mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet sind, Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher ausführt, und eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Artikel 2 Nummer 1, 4 und 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie sind[…], wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, auf denen diese Begriffe beruhen, ohne dass es auf die Absicht eines von dem betroffenen Steuerpflichtigen verschiedenen, an derselben Lieferkette beteiligten Händlers und/oder den möglicherweise betrügerischen Zweck – den dieser Steuerpflichtiger weder kannte noch kennen konnte – eines anderen Umsatzes ankommt, der Teil dieser Kette ist und der dem Umsatz, den der betreffende Steuerpflichtige getätigt hat, vorausgeht oder nachfolgt. Das Recht eines Steuerpflichtigen, der solche Umsätze ausführt, auf Vorsteuerabzug wird auch nicht dadurch berührt, dass in der Lieferkette, zu der diese Umsätze gehören, ohne dass dieser Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hat oder haben kann, ein anderer Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet ist.”[21]

Aus dieser Grundaussage war insbesondere der Umkehrschluss zu ziehen, dass Lieferungen keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Richtlinie darstellen, obwohl sie die objektiven Kriterien zwar erfüllen, aber dieses Unternehmen der betrügerische Zweck bekannt war oder bekannt sein konnte.

Als weitreichende Folge ist zu bemerken, dass ein Unternehmer, der in eine Betrugskette eingebunden ist und Kenntnis hätte haben können,  nach der Vorgabe des EuGH  keine wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, sondern nur einen Vorgang der von der Umsatzsteuer gar nicht erfasst sein soll. Übersetzt man diese Terminologie des EuGH zurück in das deutsche Umsatzsteuerrecht lautet der Terminus: „keine Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr”. Man wird den tatsächlichen Vorgang dann als umsatzsteuerrechtlich unerhebliche Lieferung ansehen. Daraus ergibt sich, dass kein Vorsteuerabzug vorgenommen werden kann. Eine dennoch ausgewiesene Umsatzsteuer wird wegen der Bestimmung des § 14c Abs. 2 UStG geschuldet.

Um es deutlich zu sagen, es kommt gar nicht auf objektive Tatbestandsmerkmale alleine an, auch auf den subjektiven Aspekt (Vorsatz) wird nicht abgestellt. Allein die Tatsache, dass der Unternehmer hätte Kenntnis haben können führt zu dieser steuerlich veränderten Situation.

In den verbundenen Rechtssachen C‑439/04 und C‑440/04, betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht von der Cour de cassation (Belgien) mit Entscheidungen vom 7. Oktober 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Oktober 2004, in den Verfahren Axel Kittel (C‑439/04) und Recolta Recycling SPRL (C‑440/04)  führt der EuGH wie folgt aus: „Angesichts des Vorstehenden müssen Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht in einen Betrug – sei es eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder ein sonstiger Betrug – einbezogen sind, auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können, ohne Gefahr zu laufen, ihr Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2006 in der Rechtssache C‑384/04, Federation of Technological Industries, Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 33)”.

„ Folglich ist Artikel 17 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass er in dem Fall, dass eine Lieferung an einen Steuerpflichtigen vorgenommen wird, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in einen vom Verkäufer begangenen Betrug einbezogen war, einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, wonach die Nichtigkeit des Kaufvertrags aufgrund einer zivilrechtlichen Bestimmung, nach der dieser Vertrag unheilbar nichtig ist, weil er wegen eines in der Person des Verkäufers unzulässigen Grundes gegen die öffentliche Ordnung verstößt, zum Verlust des Rechts auf Abzug der von diesem Steuerpflichtigen entrichteten Vorsteuer führt. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Nichtigkeit auf einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder einem sonstigen Betrug beruht.

Dagegen sind die objektiven Kriterien, auf denen der Begriff der Lieferung von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher ausführt, und der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit beruhen, nicht erfüllt, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht (vgl. Urteil vom 21. Februar 2006 in der Rechtssache C‑255/02, Halifax u. a., Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 59).

Denn die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist, worauf der Gerichtshof bereits hingewiesen hat, ein Ziel, das von der Sechsten Richtlinie anerkannt und gefördert wird (vgl. Urteil vom 29. April 2004 in den Rechtssachen C‑487/01 und C‑7/02, Gemeente Leusden und Holin Groep, Slg. 2004, I‑5337, Randnr. 76). Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht ist nicht erlaubt (vgl. u. a. Urteile vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C‑367/96, Kefalas u. a., Slg. 1998, I‑2843, Randnr. 20, vom 23. März 2000 in der Rechtssache C‑373/97, Diamantis, Slg. 2000, I‑1705, Randnr. 33, und vom 3. März 2005 in der Rechtssache C‑32/03, Fini H, Slg. 2005, I‑1599, Randnr. 32).

Stellt die Finanzverwaltung fest, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise ausgeübt wurde, so ist sie befugt, rückwirkend die Zahlung der abgezogenen Beträge zu verlangen (vgl. u. a. Urteile vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83, Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 24, vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C‑110/94, INZO, Slg. 1996, I‑857, Randnr. 24, und Gabalfrisa u. a., Randnr. 46), und das nationale Gericht hat den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu verweigern, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise geltend gemacht wird (vgl. Urteil Fini H, Randnr. 34).

Ebenso ist ein Steuerpflichtiger, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, für die Zwecke der Sechsten Richtlinie als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen, unabhängig davon, ob er aus dem Weiterverkauf der Gegenstände einen Gewinn erzielt.

Denn in einer solchen Situation geht der Steuerpflichtige den Urhebern der Hinterziehung zur Hand und macht sich ihrer mitschuldig.”[22]

Diese grundsätzliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass er dem bösgläubigen Unternehmer den Vorsteuerabzug aus der Lieferung versagen will, also die Lieferung an ihn und durch ihn nicht als wirtschaftliche Tätigkeit ansieht, wird auch in neueren Urteilen des EuGH wiederholt .[23]

5.  Aktuelle Rechtsprechung zur USt. Strafbarkeit

Die aktuelle Rechtsprechung zu der Frage der Strafbarkeit der Umsatzsteuerhinterziehung muss zweigleisig gesehen werden. Zum einen gibt es die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und zum anderen gibt es die der nationalen Gerichte.

National wird unterschieden zwischen den Finanzgerichten, die sich mit der Frage der Steuerfestsetzung befassen und den Strafgerichten, die sich mit der Steuerhinterziehung auseinandersetzen. Die Strafgerichte müssen in Deutschland den steuerstrafrechtlichen Sachverhalt in eigener Verantwortung prüfen und feststellen. Eine blinde Übernahme der finanzgerichtlichen Feststellung kommt nicht in Betracht. Natürlich schauen die Strafgerichte bei der Feststellung des steuerlichen Sachverhaltes durchaus auf die Auslegungen der Finanzgerichte. In wieweit eine Betrachtung der Urteile des europäischen Gerichtshofs einbezogen wird und einbezogen werden darf, soll diese Arbeit nachfolgend aufzeigen.

Soweit die inländische Umsatzsteuer betroffen war, hat der Strafrichter auf die Norm des § 370 AO zurückgegriffen. Eine spezielle Norm zur Verfolgung von Umsatzsteuerstraftaten existiert nicht. Bis zum 31.12.2010 war die Beteiligung an der Steuerhinterziehung im EU-Ausland in Deutschland aufgrund deutscher strafrechtlicher Normen nicht verfolgbar. Dies hat sich mit der Neufassung des § 370 Abs. 6 AO zum 01.01.2011 geändert. Um die Konsequenzen aus dieser Erweiterung der Normen darzustellen muss zunächst die weitere Rechtsprechung zur deutschen Behandlung der Umsatzsteuerstrafbarkeit dargestellt werden.

Über folgende Frage hatte der BGH 2010 zu entscheiden: Kann der Herkunftsmitgliedsstaat der Waren dem in diesem Staat  ansässigen steuerpflichtigen Verkäufer die Steuerbefreiung versagen, wenn dieser zwar objektiv eine innergemeinschaftliche Lieferung durchgeführt, jedoch bestimmte den Umsatz betreffende Umstände nicht angegeben  und es dem im Bestimmungsmitgliedsstaat ansässigen Käufer damit ermöglicht hat, die Steuer dort zu hinterziehen?[24]

a. Sachverhalt

R ist ein in Deutschland lebender portugiesischer Geschäftsführer einer in Deutschland ansässigen Kapitalgesellschaft, die pro Jahr über 500 hochwertige Fahrzeuge zum größten Teil an in Portugal ansässige Fahrzeughändler verkaufte. R nahm in diesem Rahmen Manipulationen vor, um die Identität der tatsächlichen Käufer zu verschleiern und ihnen somit die Hinterziehung der Umsatzsteuer zu ermöglichen. Er konnte so die Fahrzeuge günstiger verkaufen und erzielte dadurch höhere Gewinne. Durch die Ausstellung von Scheinrechnungen auf Scheinkäufer, die deren USt-IdNr, die Bezeichnung des – an einen anderen Erwerber gelieferten – Fahrzeugs und den Zusatz „steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung nach § 6 a UStG“ (sowie „Differenz-Besteuerung nach § 25 a UStG“ auf den Scheinrechnungen mit den Endabnehmern als Adressaten) beinhielten, erweckte er den Eindruck, dass die Umsatzsteuer in Portugal bezahlt wurde. Die Fahrzeuge wurden von den tatsächlichen Käufern in Portugal an Privatpersonen weiterverkauft, ohne den innergemeinschaftlichen Erwerb bei den portugiesischen Finanzbehörden zu melden. So mussten sie die eigentlich für diesen Erwerb anfallende Umsatzsteuer nicht entrichten.

Auf diese Weise wurden 1.100 Fahrzeuge für einen Betrag von ungefähr 19 Mio. EUR verkauft.

Diese Umsätze gab R in den Steuererklärungen als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen an und benannte in den „zusammenfassenden Mitteilungen“ an das Bundeszentralamt für Steuern die Scheinkäufer als Vertragspartner, so dass eine Ermittlung der tatsächlichen Käufer in Portugal über das Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem der Union unmöglich wurde. Unstreitig wurden alle PKW tatsächlich nach Portugal geliefert.[25]

b. Verfahrensgang strafrechtlich und steuerlich

I Landgericht Mannheim

 Das Landgericht Mannheim verurteilte R mit Urteil vom 17. September 2008[26] wegen Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Das Landgericht war der Auffassung, die verschleierten Lieferungen nach Portugal seien keine innergemeinschaftlichen Lieferungen i.S.d. Art. 28c der Sechsten Richtlinie und somit nicht mehrwertsteuerfrei gewesen. Die Steuerhinterziehung bestand somit darin, dass R seinen Verpflichtungen nicht nachgegangen sei, die Mehrwertsteuer zu erheben, sie an die deutsche Finanzverwaltung abzuführen und sie in seinen Steuererklärungen anzugeben.

Gegen dieses Urteil legte R Revision beim Bundesgerichtshof ein. Er machte geltend, dass das Landgericht zu Unrecht das Vorliegen innergemeinschaftlicher Lieferungen abgelehnt habe, da die Fahrzeuge tatsächlich an gewerblich tätige Erwerber geliefert worden und somit steuerfrei seien. Für die steuerliche Qualifizierung seien die Verschleierungsmaßnahmen irrelevant. Außerdem hätte es keine Gefährdung der Steuererhebung in Deutschland gegeben, da die fragliche Mehrwertsteuer dem Bestimmungsland Portugal zugestanden hätte.

II BGH

Der Strafsenat des BGH[27] war in einem ähnlichen Fall (Export der PKW nach Italien) zeitgleich  mit folgernder Frage konfrontiert: Macht sich der Unternehmer, der eine grundsätzlich nach § 6a Abs. 1 S. 1 UStG tatbestandliche Lieferung als steuerbefreit deklariert, in Deutschland wegen Steuerhinterziehung strafbar, wenn er die Lieferung in dem Bewusstsein erbracht hat, dass seine Abnehmer die auf die Lieferung anfallende Erwerbsteuer in einem anderen Mitgliedstaat durch Verschleierung und falsche Angaben umgehen werden und er mit ihnen diesbezüglich einverständlich zusammenarbeitet?

In diesem Urteil wendet sich der BGH von der bisherigen Praxis ab, nach der der geforderte Buch- und Belegnachweis kein materieller Gesichtspunkt der Befreiung der Umsatzsteuer darstellt.

Er formuliert:

“Die Mitgliedstaaten dürfen nach Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie Maßnahmen erlassen, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu verhindern. Für die Steuerbefreiung der Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ist nach § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG daher erforderlich, dass die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung nach § 6a Abs. 1 und 2 UStG durch den inländischen Unternehmer nachgewiesen sind. Dabei muss die Beförderung oder Versendung des Gegenstandes der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet (§ 6a Abs. 1 Nr. 1 UStG) durch entsprechende Belege eindeutig und leicht nachzuprüfen sein (§ 17a Abs. 1 UStDV, sog. Belegnachweis). Darüber hinaus hat der inländische Unternehmer die Voraussetzungen der Steuerbefreiung buchmäßig nachzuweisen (§ 17c Abs. 1 UStDV; sog. Buchnachweis). Diese Nachweispflichten sind mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Sie sind indes grundsätzlich keine materielle Voraussetzungen für die Befreiung von der Umsatzsteuer (BFH DStR 2008, 297, 299 im Anschluss an die Vorabentscheidung des EuGH, Urt. vom 27. September 2007 – Rechtssache C-146/05 – Collé). Steht aufgrund der objektiven Beweislage fest, dass die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen, ist die Steuerbefreiung zu gewähren, auch wenn der Unternehmer die erforderlichen Nachweise nicht entsprechend §§ 17a, 17c UStDV erbracht hat (BFH a.a.O.). Soweit in der bisherigen Rechtsprechung im Anschluss an die damalige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH/NV 1997, 629 ff.) auch in steuerstrafrechtlicher Hinsicht von anderen Grundsätzen ausgegangen wurde (BGH NJW 2005, 2241), gibt der Senat diese angesichts der neueren Rechtsprechung des EuGH und des BFH auf.”[28]

 

Eine missbräuchliche Praxis sieht der BGH als gegeben an, wenn Umsätze trotz formeller Erfüllung der Voraussetzungen der nationalen Vorschriften über die Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung mit den Zielen der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie nicht vereinbar wäre und zudem anhand objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen nur ein Steuervorteil bezweckt wird.

„Die Lieferung von Gegenständen an einen Abnehmer im übrigen Gemeinschaftsgebiet stellt keine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung i.S. des § 6a UStG dar, wenn der inländische Unternehmer in kollusivem Zusammenwirken mit dem Abnehmer die Lieferung an einen Zwischenhändler vortäuscht, um dem Abnehmer die Hinterziehung von Steuern zu ermöglichen.“[29]

Der BGH legt somit den Art. 28c Teil A Bst. A der 6. EG-Richtlinie dahin aus, dass „für alle Beteiligten eines oder mehrerer Umsatzgeschäfte, die auf die Hinterziehung von Steuern gerichtet sind, die für die einzelnen Geschäfte grundsätzlich vorgesehenen Steuervorteile zu versagen sind, wenn der jeweilige Steuerpflichtige die missbräuchliche oder betrügerische Praktik kennt und sich daran beteiligt“.[30]

Dabei beruft sich der BGH auf das gemeinschaftliche Missbrauchsverbot, um die Steuerfreiheit zu versagen. So nahm er die Geltendmachung der Steuerfreiheit für die strittige Lieferung als Bezugspunkt für die Annahme einer Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 Abs. 1 AO. Der BGH legt somit § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 UStG gemeinschaftsrechtlich aus: „bei übereinstimmenden Willen von Unternehmer und Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen und falsche Angaben die Erwerbsbesteuerung gezielt umgangen werden soll.“[31] Die Verschleierungsmaßnahmen müssen auch dem Zwecke der Verschaffung von einem ungerechtfertigten Steuervorteil folgen.

III FG Baden-Württemberg

Die Rechtssache R war auch steuerlich streitig geblieben. In einem wegen desselben Sachverhalts gegen R durchgeführten Besteuerungsverfahren, äußerte das Finanzgericht Baden-Württemberg Zweifel hinsichtlich der Auffassung des Bundesgerichtshofs zur Versagung der Steuerbefreiung in diesem Verfahren.[32]

Die Vorschriften der §§ 4 Nr. 1 Buchst. B, 6a Abs. 1 Satz 1 UStG werden in dem Beschluss nach den objektiven Kriterien durchgeprüft und es wird erkannt, dass es nicht erforderlich sei, dass der innergemeinschaftliche Erwerb tatsächlich besteuert worden ist.[33]

Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs[34]„fehlt es auch nicht deshalb an den Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung, weil die Antragstellerin die nach § 6a Abs. 3 UStG bei einer innergemeinschaftliche Lieferung erforderlichen Nachweise hier nicht erbracht hat. Denn diese Nachweispflichten sind keine materiellen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung. Zwar ist in einem solchen Fall danach weiterhin grundsätzlich davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht erfüllt sind. Wenn trotz der Nichterfüllung der formellen Nachweispflichten aufgrund der objektiven Beweislage feststeht, dass die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen, ist die Steuerbefreiung nach der Auffassung des Bundesfinanzhofs in der o.g. Entscheidung, der sich der Senat anschließt, aber zu gewähren.”[35]

“Offen ist, ob die Qualifizierung der streitigen Umsätze als innergemeinschaftliche Lieferungen und die damit verbundenen Steuerbefreiung entsprechend der Auffassung des Antragsgegners und der Rechtsprechung der Strafgerichte (vgl. das BGH-Beschl. v. 20. November 2008, 1 StR 354/08 – JURIS – sowie das gegenüber dem Geschäftsführer der Antragstellerin ergangene Urteil des LG Y v. 17. September 2008) deshalb ausgeschlossen ist, weil die Antragstellerin sich nach Aktenlage dadurch Wettbewerbsvorteile verschafft hat, dass sie durch Ausstellung unzutreffender Rechnungen ihre wahren Abnehmer verschleiert und den tatsächlichen portugiesischen Abnehmern ermöglicht hat, portugiesische Umsatzsteuern zu hinterziehen. Zwar darf die Nichterfüllung der vom Mitgliedstaat aufgestellten formellen Nachweisanforderungen nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. d. Urt. v. 27. September 2007, a.a.O. Rn. 37 sowie Englisch, UR 2008, 481) nicht zu einer Gefährdung des Steueraufkommens führen. Der EuGH hat aber in dem vorgenannten Urteil zugleich erkennen lassen, dass sich diese Einschränkung wegen des Grundsatzes der steuerlichen Territorialität allein auf den Mitgliedstaat bezieht, in dem der Endverbrauch erfolgt, so dass die Nichterhebung von Mehrwertsteuer auf eine innergemeinschaftliche Lieferung durch den Herkunftsstaat der Lieferung nicht als Gefährdung des Steueraufkommens angesehen werden kann (so auch FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 27. November 2008 a.a.O. Rz. 34). Die vom Landgericht im Strafverfahren gegen den Geschäftsführer der Antragstellerin zur Begründung seiner Auffassung angeführte Entscheidung des BGH (NJW 1995, 2241f.) beruht auf einer von der Rechtsprechung des EuGH abweichenden Auffassung, der der Senat nicht folgt.”[36]

Gerade unter Hinweis auf das dem Gericht bekannte Kittel und Ricolta Recycling Urteil[37] bleibt das Gericht bei der Aussage. Denn insoweit beruft sich die Antragstellerin wohl schon deshalb nicht missbräuchlich auf das Gemeinschaftsrecht, weil die materiellen Voraussetzungen einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung – soweit bei summarischer Prüfung ersichtlich – objektiv vorlagen.

IV BFH

Die Rechtssache R wurde dem BFH vorgelegt. Der Bundesfinanzhof[38] schloss sich den Ausführungen des vorhergehenden Finanzgerichts im Wesentlichen an.

Insbesondere führt der BFH aus:

“Dem FG ist auch insoweit zu folgen, als der im Rahmen eines fehlenden oder unzureichenden Buchnachweises relevante Gesichtspunkt einer Gefährdung des Steueraufkommens der Qualifizierung als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen bei summarischer Prüfung nicht entgegensteht.

(1) Der EuGH hat in der Rs. Collée in Slg. 2007, I-7861 entschieden, das nationale Gericht müsse insoweit prüfen, ob die verspätete Erbringung des Buchnachweises zu einer Gefährdung des Steueraufkommens führen oder die Erhebung von Mehrwertsteuer beeinträchtigen konnte (Randnr. 36). Die Nichterhebung der Mehrwertsteuer auf eine innergemeinschaftliche Lieferung könne dabei aber nicht als eine Gefährdung des Steueraufkommens angesehen werden, weil solche Einnahmen nach dem Grundsatz der steuerlichen Territorialität dem Mitgliedstaat zustünden, in dem der Endverbrauch erfolge(…).

(2) Danach ist nicht auszuschließen, dass das FG zu Recht wegen eines fehlenden Besteuerungsrechts Deutschlands eine Gefährdung des Steueraufkommens verneint hat. Dass es allein auf die Gefährdung des Steueraufkommens des Lieferstaats ankommt, entspricht auch einer weithin vertretenen Ansicht (…). Davon scheint auch der BFH im Folgeurteil Collée in BFHE 219, 469, BStBl. II 2009, 57 auszugehen. Darin schließt er die Gefährdung des Steueraufkommens deshalb aus, weil das FA dem S den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der GmbH an S über die fingierten Kfz-Lieferungen von vornherein versagte und zudem der Kläger die unrichtigen Rechnungen an S widerrufen hatte (vgl. unter II.2.b).

Allerdings ist letztlich noch offen und ungeklärt, ob die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung auch dann vorliegen, wenn der Lieferer an der Vermeidung der Erwerbsbesteuerung seines Abnehmers im Gemeinschaftsgebiet mitwirkt […].

 

Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des EuGH, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Gemeinschaftsrecht nicht erlaubt ist (……… Im Zusammenhang mit der Frage der Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen nach Art. 28c Teil A Buchst. a der Richtlinie 77/388/EWG hat der EuGH daher im Urteil Teleos in Slg. 2007, I-7797 entschieden, dass es nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstieße, wenn vom Lieferanten gefordert würde, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt. Dass der Lieferant gutgläubig war, dass er alle ihm zur Verfügung stehenden, zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und dass seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist, sind danach wichtige Kriterien im Rahmen der Feststellung, ob er nachträglich zur Mehrwertsteuer herangezogen werden kann (vgl. Leitsatz 2 sowie Randnr. 65 f.).

[…]Es wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein, ob die Mitwirkung eines inländischen Unternehmers an einer Steuerhinterziehung, die sein ausländischer Abnehmer gegenüber dessen Mitgliedstaat begeht, es rechtfertigen kann, dass der deutsche Fiskus eine Steuer festsetzen darf, die nicht entstanden wäre, wenn der deutsche Unternehmer seinen wahren Abnehmer in seinen Büchern benannt und nicht einen Scheinabnehmer vorgetäuscht hätte. Dadurch könnte die Versagung der Steuerfreiheit möglicherweise einen unzulässigen Sanktionscharakter erhalten (vgl. dazu Randnr. 45 des Schlussantrags der Generalanwältin vom 11. Januar 2007 in der Rs. C-146/05 –Collée–, Slg. 2007, I-7861; sowie EuGH-Urteil Collée in Slg. 2007, I-7861, Randnr. 40).

bb) Unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs wird vertreten, dass die für den Leistenden erkennbare Nichtbesteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs durch den Erwerber zur Steuerpflicht der innergemeinschaftlichen Lieferung führe (Wäger, Urteilsanmerkung zum EuGH-Urteil Kittel und Recolta Recycling in 2006, I-6161, UR 2006, 599, 601). Dem könnte jedoch entgegenstehen, dass die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis erfordert, dass die Umsätze trotz formaler Anwendung des Gemeinschaftsrechts und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe. Außerdem muss anhand objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.”[39]

Die Zweifel an der Versagung der deutschen Steuerfreiheit, weil die portugiesische Besteuerung nicht sichergestellt war, wird schon in diesem Beschluss des höchsten deutschen Steuergerichtes als “unzulässige Sanktion” bezeichnet. Schon hier ist darauf hinzuweisen, dass es diesen Richtern an der Terminologie gefehlt hat, diese “Steuergerechtigkeit” in einem rechtlichen Rahmen einzuordnen. Eine Vorschrift konnte nicht benannt werden, denn eine solche gab es nicht. Aber der Charakter der Rechtsfolge schien klar zu sein; keine Bestrafung aufgrund einer gesetzlichen Strafregel, aber eine Pönale, die mangels gesetzlicher Grundlage gar nicht zulässig sein kann.

Dieses sind aus der Beurteilung des Verfassers noch die höflichsten Worte die man finden kann, um einen gesetzwidrigen Zustand, der staatlich durchgesetzt werden soll, zu umschreiben.

ee. BGH

In der Rechtssache R wurde nun der BGH wegen der strafrechtlichen Revision angerufen. In seinem Vorlagebeschluss[40]an den EuGH teilte er ausdrücklich nicht die Rechtsauffassung des FG Baden-Württemberg (s. Rdnr. 46). Der Strafsenat legt zunächst dar, welche Rechtsprechungen des Gerichtshofes zur Befreiung von der Mehrwertsteuer bei innergemeinschaftlichen Lieferungen (s. Rdnr 14 ff.) und sodann zum Recht auf Vorsteuerabzug (s. Rdnr. 19 f.) bestehen. Bei letzterem ist auch die Steuerbefreiung ein Steuervorteil (s. Rdnr. 26). Diese ist seiner Ansicht nach wegen “Rechts- und Systemmissbrauch” (s. Rdnr. 44) zu versagen und daher liegt eine Steuerpflicht vor. Dagegen hat der Täter verstoßen und daher ist die Sache strafbar.

“Auch der Umstand, dass es bei Versagung der Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von der Umsatzsteuer zu einer Doppelbesteuerung des Umsatzes im Ursprungs und Bestimmungsland kommen kann, wenn trotz der Verschleierungsmaßnahmen der wahre Sachverhalt im Empfängerstaat aufgedeckt und der innergemeinschaftliche Erwerb noch nachträglich besteuert wird, rechtfertigt nach Auffassung des Senats kein anderes Ergebnis. Denn darin ist keine Verletzung des dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem immanenten Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zu sehen.“[41] “Schließlich käme grundsätzlich auch in Betracht, eine tatsächlich eingetretene Doppelbesteuerung, wenn die Erwerbsbesteuerung im Ursprungsland doch noch durchgeführt wurde, durch eine nachträgliche Erstattung der zunächst vom inländischen Unternehmer geschuldeten Umsatzsteuer zu beseitigen. § 227 AO (siehe Anlage 11) sieht eine entsprechende Erstattungsmöglichkeit vor. Er könnte dann zur Anwendung kommen, wenn die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt ist, mit der Folge, dass die Umsatzsteuer zu erstatten ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2000, Rechtssache C-454/98, Schmeink & Cofreth u.a., Tenor 1, Rdn. 60 ff.)”[42]

Das Urteil wird bereits an dieser Stelle  vom Verfasser wie folgt kritisiert. Durch die von dem Gericht hier gezeigte Rechtsauffassung wird in einem ersten Schritt deutlich vermittelt, dass es auch umsatzsteuerrechtlich zwei staatliche Kassen gibt. Die Richtlinie hat, wenn der subjektive Tatbestand steuerlich nicht mitgewertet wird, eine Entscheidung der Umsatzsteuer für das Bestimmungsland getroffen (Portugal darf die Besteuerung vornehmen). Akzeptiert man, dass die Ausfuhrlieferung in Deutschland nicht steuerbefreit ist, so entsteht eine doppelte Erhebung der Umsatzsteuer. Deutschland darf nun nach der hier geäußerten Rechtsauffassung die Steuerbefreiung der Ausfuhrlieferung negieren. Dieses hat nichts damit zu tun, dass die Steuerpflichtigkeit bei den Endverbrauchern in Portugal bestehen bleibt. Der Vorlagebeschluss setzt sich damit auseinander, dass die spätere Nacherhebung der Umsatzsteuer in Deutschland keine Verletzung der Neutralität der Umsatzsteuer sei. Eine Begründung allerdings, warum die doppelte Erhebung der Umsatzsteuer bezüglich des gleichen steuerlichen Vorganges neutral  sein soll, wird nicht gegeben.

Ein Unwohlsein bezüglich dieser Erklärung ist dem Urteil dennoch anzumerken, denn es will erklären, wie die doppelte Besteuerung im Tatsächlichen vermieden wird. Diesen Überlegungen ist gleich mehrfach entgegenzutreten. Rein formal kann eine Steuer nicht über § 227 AO zurückerstattet werden, wenn sie rechtmäßig ist. Sodann sind es verschiedene Blickwinkel, die zu einer unterschiedlichen Steuer führen. Die Umsatzsteuer entsteht auf der deutschen Seite, weil aus deutscher Sicht die Steuerbefreiung nicht mehr greifen soll. Akzeptiert man diese Betrachtungsweise, so ändert sich noch nichts an der Tatsache, dass die in Portugal an Endverbraucher verkauften Autos dem Grunde nach bei den Endverbrauchern zu versteuern sind. Es sind schlicht verschiedene Anknüpfungspunkte bei der Erhebung der Steuer.

Kritik verdient die Überlegung auch dahingehend, dass selbst wenn man der Ansicht der Rückerstattung über § 227 AO folgt, sich die Frage stellt, ob zuerst Deutschland erstatten muss oder ob zuerst Portugal den Nachweis über die Besteuerung beim Endverbraucher zu liefern hat. Neben diesem Mix aus steuerlichen Moralvorstellungen stellt sich natürlich auch die Frage der strafrechtlichen Beurteilung. Soweit also die Versteuerung bei den Verbrauchern in Portugal tatsächlich stattgefunden hat, kann die nachträglich erhobene deutsche Umsatzsteuer gemäß § 227 AO zurückerstattet werden. In Konsequenz darf die Frage gestellt werden, entfällt damit (ex tunc oder ex nunc) der Straftatbestand?

Die Frage wird in dieser Arbeit nach der Darstellung der weiteren Rechtsprechung nochmals aufgegriffen.

“Der Grundsatz der Territorialität steht nach Auffassung des vorlegenden Senats in Fällen der vorliegenden Art der Versagung der Umsatzsteuerbefreiung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen ebenfalls nicht entgegen. Denn der Grundsatz der Territorialität ist Ausfluss des Prinzips der steuerlichen Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (EuGH, Urteil vom 27. September 2007, Rechtssache C-146/05 – Collée, Rdn. 22 f.). Die Neutralität der Mehrwertsteuer ist aber nicht durch die Versagung der Steuerbefreiung gefährdet, sondern vielmehr – wie dargelegt – durch die von den Beteiligten vorgenommenen Verschleierungsmaßnahmen, mit denen die Erwerbsbesteuerung im Empfängerstaat vermieden werden soll. Gerade diese Gefährdung rechtfertigt nach Ansicht des vorlegenden Senats die Versagung der Befreiung von der Umsatzsteuer bei der vorgenommenen innergemeinschaftlichen Lieferung”.[43]

So ganz deutlich wird dem Verfasser nicht, was der Senat mit dem Grundsatz der Territorialität ausdrücken möchte. Eine internationale Territorialität der Mehrwertsteuer auf den europäischen Rechtsraum als gemeinsame europäische Kasse besteht jedenfalls nicht. Die Territorialität im Steuersystem der Umsatzsteuer führt letztendlich zu der Aussage, welches Land das Recht der Umsatzbesteuerung hat. Gerade deshalb muss unter dem Gesichtspunkt der Territorialität und der grundsätzlichen Aussage, das Umsatzsteuer neutral sein soll, sehr streng darüber nachgedacht werden, dass nicht anlässlich einer offensichtlich gewollten Bestrafungsmöglichkeit ein zusätzlicher Umsatzsteuerrecht erfunden wird, welches die Neutralität der Umsatzsteuer eben verlässt und zu einer doppelten Besteuerung führt.

“Auch wenn der Senat die Rechtsauffassung des Finanzgerichts Baden-Württemberg nicht für zutreffend erachtet, legt er die entscheidungserhebliche Rechtsfrage dem Gerichtshof gemäß Art. 234 Abs. 3 EG zur Vorabentscheidung vor. Angesichts der vom Finanzgericht Baden-Württemberg geäußerten Rechtsbedenken kann nicht mehr ohne weiteres angenommen werden, dass für die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 28c der Sechsten Richtlinie in Fällen der Verschleierung des Empfängers innergemeinschaftlicher Lieferungen bestehen.”[44]

ff. Vorlage beim EuGH

Aufgrund der geschilderten Entwicklung legte der Strafsenat des BGH daher die folgenden Fragen vor:

 

“Ist Art. 28c Teil A Buchst. a der Sechsten Richtlinie in dem Sinne auszulegen, dass einer Lieferung von Gegenständen im Sinne dieser Vorschrift die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn die Lieferung zwar tatsächlich ausgeführt worden ist, aber aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der steuerpflichtige Verkäufer

  1. wusste, dass er sich mit der Lieferung an einem Warenumsatz beteiligt, der darauf angelegt ist, Mehrwertsteuer zu hinterziehen, oder
  2. Handlungen vorgenommen hat, die darauf abzielten, die Person des wahren Erwerbers zu verschleiern, um diesem oder einem Dritten zu ermöglichen, Mehrwertsteuer zu hinterziehen?”[45]

Anders formuliert lautete die an den EuGH gestellte Frage wie folgt: Darf die inndeutsche Steuerbefreiung in den Fällen versagt werden, in denen die Voraussetzung für die Steuerfreiheit objektiv vorliegt, der Lieferant aber aktiv und gezielt an einer ausländischen Umsatzsteuerhinterziehung mitgewirkt hat?

Der EuGH[46] bejahte die Versagung mit folgender Argumentation.

In der Randziffer 48 führte der EuGH aus, die Verhinderung der Steuererhebung durch „Vorlage von Scheinrechnungen oder Übermittlung unrichtiger Angaben sowie sonstige Manipulationen“ würde „das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystem in Frage stellen“. Der EuGH stuft als besonders schwerwiegend solche Handlungen ein, die „im Rahmen der Übergangsregelung für die Besteuerung innergemeinschaftlicher Umsätze (…) auf Beweisen beruhen, die von den Steuerpflichtigen zu erbringen sind“.

„Demzufolge (habe ) das Unionsrecht den Mitgliedstaaten nicht (verwehrt), die Ausstellung unrichtiger Rechnungen als Steuerhinterziehung anzusehen und in einem solchen Fall die Befreiung zu verweigern (Rz. 49).“

In den darauffolgenden Randziffern beschreibt der EuGH das Ziel der Versagung der Steuerbefreiung und macht deutlich, dass es sich dabei um eine Sanktion handelt:

„Die Verweigerung der Befreiung in dem Fall, dass eine nach dem nationalen Recht vorgesehene Verpflichtung nicht eingehalten wurde – hier die Verpflichtung zur Angabe des Empfängers der innergemeinschaftlichen Lieferung –, hat nämlich eine abschreckende Wirkung, die die Durchsetzung dieser Verpflichtung gewährleisten und Steuerhinterziehungen oder -umgehungen verhüten soll.“[47]

Als Begründung für die Rechtsgrundlage der Sanktion wird wie folgt formuliert:

Demzufolge kann der Ausgangsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Steuerbefreiung gestützt auf die Befugnisse versagen, die ihm nach dem ersten Satzteil von Art. 28c Teil A Buchst. A der Sechsten Richtlinie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Missbrauch eingeräumt sind.“[48]

Auch zur Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nimmt der EuGH Stellung. Nach seiner Auffassung sei die nachträgliche Entrichtung der tatsächlich geschuldeten Mehrwertsteuer durch einen an einer Steuerhinterziehung beteiligten Lieferer verhältnismäßig, wenn diese Beteiligung „ein bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme zu berücksichtigender maßgeblicher Gesichtspunkt ist“[49].

Hinsichtlich möglicher Verstöße gegen die Grundsätze der Mehrwertsteuer und der Rechtssicherheit könne sich ein Steuerpflichtige, „der sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt und das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet, (…) nicht mit Erfolg auf diese Grundsätze berufen“[50].

gg. BGH

Der BGH ist am 20.10.2011 dem EuGH gefolgt und hat die Revision des R zurückgewiesen.[51] Die Leitsätze der Entscheidung lauten wie folgt:

“1. Zur Versagung der Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 6a UStG) von der Umsatzsteuer bei der Verschleierung der Identität des wahren Erwerbers, um diesem die Hinterziehung der im Bestimmungsland für den Erwerb geschuldeten Umsatzsteuer zu ermöglichen (im Anschluss an die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache R durch Urteil vom 7. Dezember 2010, C-285/09).

2. Nicht nur durch die kollusive Verschleierung der Abnehmer zum Zwecke der Umsatzsteuerhinterziehung fehlt es für die Steuerbefreiung an den in § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG enthaltenen Befreiungsvoraussetzungen. Eine Befreiung von der deutschen Umsatzsteuer kommt darüber hinaus auch dann nicht in Betracht, wenn der Angeklagte einseitig gegen die sich aus § 6a Abs. 3 UStG i.V.m. § 17a, § 17c UStDV ergebenden Anforderungen an den Buch- und Belegnachweis verstößt, um den wahren Erwerbern im EU-Ausland eine Umsatzsteuerhinterziehung zu ermöglichen.
3. Die Ausnahme vom Grundsatz der Nachweispflicht besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache Collée dann, wenn trotz derartiger Nachweismängel feststeht, dass die Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt sind. Diese Ausnahme greift aber nicht ein, wenn der Verstoß gegen die Nachweispflichten den “sicheren Nachweis” – also den zweifelsfrei objektiven Nachweis – verhinderte, dass die materiellen Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt werden. Dann verbleibt es bei dem Grundsatz der Steuerpflicht.

4. Der Wortlaut der deutschen steuerrechtlichen Vorschriften ist ein ausreichender Anknüpfungspunkt für die gemeinschaftsrechtlich gebotene Auslegung auch des Steuerstrafrechts. Nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG liegt eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung nur dann vor, wenn der Erwerb des Gegenstands der Lieferung beim Abnehmer der Lieferung in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegt. In dieser Vorschrift kommen der vom Gerichtshof hervorgehobene Besteuerungszusammenhang zwischen innergemeinschaftlicher Lieferung und innergemeinschaftlichem Erwerb und die damit bezweckte Verlagerung des Steueraufkommens auf den Bestimmungsmitgliedstaat durch die dort beim Abnehmer als Steuerschuldner vorzunehmende Besteuerung zum Ausdruck. Deshalb ist es nicht zulässig, die Steuerfreiheit nach § 6a UStG trotz absichtlicher Täuschung über die Person des Erwerbers in Anspruch zu nehmen. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG.”

hh. weitere Entwicklung der Rechtsprechung

Die weitere Entwicklung der Rechtsprechung ist insgesamt dahingehend zu sehen, dass der dolos handelnde Unternehmer keinen Schutz mehr genießen soll. Der dogmatische Aufhänger dieser Argumentation ist das “gemeinschaftsrechtliche Missbrauchsverbot”.

Der europäische Gerichtshof hatte nochmals Gelegenheit seine Grundsätze zusammenzufassen. Im Urteil vom 21.6.2012[52], “Mahagében und Dávid” wird wie folgt ausgeführt[53]:

„38       Wie der Gerichtshof wiederholt betont hat, ist das in den Art. 167 ff. der Richtlinie 2006/112 geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden….

39      Durch die Abzugsregelung soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen. (…)

40      Ob die Mehrwertsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Verkäufe der betreffenden Gegenstände geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde, ist für das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung. Denn die Mehrwertsteuer wird auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich der Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind. (….)

41      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird (….). Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich die Rechtsbürger nicht auf die Bestimmungen des Unionsrechts berufen können, wenn sie dies in betrügerischer oder missbräuchlicher Absicht tun (…).

42      Daher haben die nationalen Behörden und Gerichte den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (…).

43      Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, steht hinsichtlich des Ausgangsverfahrens fest, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, der das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist und dass die zur Begründung dieses Rechts geltend gemachten Dienstleistungen von ihm auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet wurden.

44      Weiter geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Vorlagefragen auf den Prämissen beruhen, dass erstens der Umsatz, der geltend gemacht wird, um das Recht auf Vorsteuerabzug zu begründen, so durchgeführt wurde, wie es sich aus der zugehörigen Rechnung ergibt, und zweitens diese Rechnung alle nach der Richtlinie 2006/112 erforderlichen Angaben enthält, so dass die nach dieser Richtlinie vorgesehenen materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass in der Vorlageentscheidung keine Feststellung dahin getroffen ist, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens selbst Manipulationen wie die Abgabe falscher Erklärungen oder die Ausstellung nicht ordnungsgemäßer Rechnungen vorgenommen hat.

45      Unter diesen Umständen kann der Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug dem Steuerpflichtigen nur auf der Grundlage der sich aus den Randnr. 56 bis 61 des Urteils Kittel und Recolta Recycling ergebenden Rechtsprechung verweigert werden, wonach aufgrund objektiver Umstände feststehen muss, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert bzw. dem gegenüber die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Umsatz in eine vom Liefernden bzw. vom Leistenden oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangene Steuerhinterziehung einbezogen war.

46      Ein Steuerpflichtiger, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist, ist nämlich für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 als an dieser Hinterziehung Beteiligter anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt (…).

47      Hingegen ist es mit der in den Randnrn. 37 bis 40 des vorliegenden Urteils beschriebenen Vorsteuerabzugsregelung der Richtlinie 2006/112 nicht vereinbar, einen Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Liefernden begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde, durch die Verweigerung dieses Rechts zu sanktionieren (…).

48      Die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung ginge nämlich über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche der Staatskasse zu schützen (….).

49      Da die Verweigerung des Vorsteuerabzugsrechts gemäß Randnr. 45 des vorliegenden Urteils eine Ausnahme vom Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es der Steuerbehörde, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine vom Liefernden bzw. vom Leistenden oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen.”

Eine Bestätigung dieser Rechtsprechung ist durch den EuGH in der Rechtssache „Bonik“ vorgenommen worden. [54] Diese grundsätzliche Linie der Rechtsprechung ist national weiter aufrechterhalten worden. Der BFH führte in seinem Urteil vom 18.2.2016[55] in Rdnr. 20 wie folgt aus:

“Das FG hat seine Auffassung insoweit zu Unrecht auf die EuGH-Urteile Mahagebén und Dávid vom 21. Juni 2012 C-80/11 und C-142/11 (EU:C:2012:373), Maks Pen vom 13. Februar 2014 C-18/13 (EU:C:2014:69) und Bonik vom 6. Dezember 2012 C-285/11 (EU:C:2012:774) gestützt. Denn in den vom EuGH in den Entscheidungen Mahagebén und Dávid, Maks Pen und Bonik zu beurteilenden Sachverhalten stand aufgrund der Vorlageentscheidungen fest, dass die nach der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28. November 2006 (Mehrwertsteuersystem-Richtlinie –MwStSystRL–) vorgesehenen materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt waren (EuGH-Urteile Mahagebén und Dávid, EU:C:2012:373, Rz 43, 44, 52; Maks Pen, EU:C:2014:69, Rz 25, und Bonik, EU:C:2012:774, Rz 29, 33, 40). Mit diesen Urteilen hat der EuGH daher das Recht auf Vorsteuerabzug nicht durch Vertrauensschutzgesichtspunkte erweitert, sondern begrenzt, indem er den Vorsteuerabzug selbst dann versagt, wenn dessen Voraussetzungen zwar tatsächlich vorliegen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (BFH-Urteil vom 22. Juli 2015 V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz 36). Diese Sanktion, dem Steuerpflichtigen den Vorsteuerabzug trotz Vorliegens seiner objektiven Merkmale zu versagen, ist nur zu rechtfertigen, wenn das FA das Vorliegen objektiver Umstände nachweist, die den Schluss zulassen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug vom Steuerpflichtigen in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (z.B. EuGH-Urteil Bonik, EU:C:2012:774, Rz 44).“

c. Kritik und Stellungnahme des Verfassers

Die Stellungnahme des EuGH und auch die Übernahme dieser Position durch den BGH und die weiteren Strafgerichte, werfen mehrere Kritikpunkte auf.

aa. Der „Missbrauch“ als Tatbestandsmerkmal des § 370 AO?

In dem der EuGH den Mitgliedstaaten vorschrieb, die Steuerbefreiung „zur Verhütung von Missbrauch“ zu versagen, hat er den Tatbestand des § 370 AO erweitert. Somit führt der Verstoß gegen das gemeinschaftliche Missbrauchsverbot zum Entfall der Steuerbefreiung, so dass derjenige, der in dieser Fallkonstellation die Mehrwertsteuer nicht abführt, eine Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO begeht. Das Missbrauchsverbot wird dadurch zum Tatbestandsmerkmal der Steuernorm, die die Grundlage der Strafbarkeit bildet.

Ob die Ergänzung des strafrechtlichen Blanketttatbestands durch ein von dem EuGH entwickeltes Missbrauchsverbot überhaupt rechtsstaatlich akzeptabel ist, erscheint dem Verfasser sehr zweifelhaft. Es ergeben sich folgende Bedenken.

– Ergänzung bei der Abfassung der Norm nicht vorgesehen

Diese Ergänzung des steuerlichen Straftatbestandes um das Missbrauchsverbot, also um eine subjektive Komponente im objektiven Tatbestand war von dem Gesetzgeber des deutschen Steuergesetzes nicht vorgesehen.[56]

– Vom Wortlaut nicht gedeckt

Die vom BGH angewandte Einschränkung der Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung bei Betrug oder Missbrauch findet im Wortlaut des § 6a UStG, um dessen Subsumtion es im konkreten geht, keinen Hinweis. Die objektiven Voraussetzungen der Unternehmereigenschaft von Lieferant und Empfänger gemäß § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 UStG lagen vor. Die Lieferung der PKW (in der Rechtssache R) unterfiel unzweifelhaft der Umsatzbesteuerung im Bestimmungsland nach § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 UStG.

Selbst wenn ein “Missbrauch der Richtlinie” gesehen werden sollte, so muss man erkennen, dass der beabsichtigte Handlungserfolg der Täter sich gegen die Bezahlung der Umsatzsteuer richtet, die in dem Land zu entrichten gewesen wäre, in das die PKW geliefert wurden. Die Interpretation des EuGH und des BGH, ist es nun eine in Deutschland zusätzlich zu entrichtende Umsatzsteuer (durch Nichtbefreiung von der Befreiung) zu erkennen. Dagegen spricht, dass selbst wenn ein Missbrauchsverbot gefunden werden könnte, so liegt der Missbrauch darin, dass im Bestimmungsland die Umsatzsteuer nicht bezahlt wird. Wenn daher der “Missbrauch der Richtlinie” eine subjektive Komponente hat, so betrifft diese nicht das Herkunftsland.

Für die Anwendung des § 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG ist es aber nicht entscheidend, ob es tatsächlich zur Besteuerung des Umsatzes im Bestimmungsland kommt, sondern lediglich, ob seine Voraussetzungen erfüllt werden. Diese liegen vor, auch wenn im Bestimmungsland keine Umsatzsteuer bezahlt wird. Die Versagung der Steuerbefreiung in Deutschland ist auch nicht dahingehend geregelt, dass grundsätzlich keine Steuerbefreiung vorgesehen ist und nur dann, wenn im Bestimmungsland Umsatzsteuer bezahlt wird, die Rechtsfolge, nämlich die deutsche Steuerbefreiung eintritt.

Im Wortlaut des § 6a Abs. 1 S. 1 UStG ist von einer möglichen Versagung der Steuerbefreiung in den Fällen des Missbrauchs oder aus sonstigen Gründen nichts zu finden.

– Verweisung in eine Richtlinie

Anknüpfungspunkt des EuGH und des BFH ist das gemeinschaftsrechtliche Verbot rechtsmissbräuchlicher Gestaltungen.

Zum einen ist die Suche in der Richtlinie nach einer konkreten Belegstelle für das “Missbrauchsverbot” nicht sehr erfolgreich. Auch der EuGH hat bisher keine konkrete Belegstelle geliefert.

Zum anderen ist eine unmittelbare Wirkung des Missbrauchsverbots aus der Mehrwertsteuer-Richtlinie ausgeschlossen, da eine Richtlinie keine direkte Wirkung entfaltet, vielmehr erst in das nationale Recht umgesetzt werden muss. Ohne die Prüfung vorzunehmen, ob das Missbrauchsverbot überhaupt der Richtlinie zu entnehmen ist, kann gesagt werden, dass eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie nicht in Betracht kommt.

In den Normen des deutschen Steuerstrafrechts ist die subjektive Komponente erst im Vorsatz zu sehen und nicht als Element des objektiven Tatbestandes. Soweit auf die deutschen Steuernormen als angebliche Quelle eines möglicherweise umgesetzten Missbrauchsverbotes geblickt wird, so findet sich auch dort keine subjektive Komponente.

Es gibt also keine nationale Umsetzung des Missbrauchsverbotes in deutsches Recht.

Auch eine mögliche richtlinienkonforme Auslegung der steuerlichen Vorschriften zum Vorsteuerabzug, um darüber zu der Strafbarkeit zu gelangen, ist kein gangbarer Weg. Grenze dieser Auslegung ist nämlich der Wortsinn der nationalen Norm. Den objektiven Begriffen „Steuerpflichtiger“, „Lieferung“ oder „wirtschaftliche Tätigkeit“ ist keine subjektive Komponente der „unredlichen Absichten“ oder der “Umgehung des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsverbots” anzuhaften. Somit kann das gemeinschaftliche Missbrauchsverbot auch nicht „verdeckt“ über die richtlinienkonforme Auslegung von Strafvorschriften zur Geltung kommen.[57] Das hat auch der EuGH in früheren Urteilen erkannt: Eine Richtlinie „kann für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats nicht die Wirkung haben, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften der Richtlinie verstoßen, festzulegen oder zu verschärfen“.[58]

bb. Missbrauch der steuerlichen Norm zwingend ein Straftatbestand?

Der EuGH und der BGH kommen über die Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsverbots zu einer Strafbarkeit. Dieses wirft die Frage auf, ob jede Form von Missbrauch von Steuergesetzen zwingend ein Steuerstraftatbestand ist.

Wenn ein Missbrauch von Steuergesetzen ohne Verwirklichung von Straftatbeständen grundsätzlich möglich sein sollte, so ist zu fragen ob es Verletzungen des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsverbots gibt, die nicht zur Strafbarkeit führen. In den bisherigen Subsumtionen des EuGH und darauf aufbauend der Strafgerichte wird dieses nicht untersucht. Regelmäßig ist die Verletzung des gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsverbotes die Verwirklichung des Straftatbestandes.

Diese Behandlung ist mit der üblichen Behandlung des steuerlichen Missbrauchs zu vergleichen.

Geregelt ist der steuerliche Missbrauchsgedanke in § 42 AO. Diese Norm führt in ihrer Rechtsfolge zu einer anderen steuerlichen Würdigung als die, die der Steuerpflichtige durch seine nicht anerkannte Gestaltung gewählt hat. Die Rechtsfolge ist aber nicht die Anwendung von Strafrecht, sondern lediglich die Anwendung des richtigen Steuerrechts.

Darüber hinaus ist jedoch auch anerkannt, dass § 42 AO zur Auslegung im Steuerstrafrecht genutzt werden darf.[59] Dennoch muss mit besonderer Vorsicht gearbeitet werden. § 42 AO erlaubt nämlich eine über den Wortlaut hinausgehende Anwendung von Steuergesetzen. Soweit § 42 Abs. 2 AO als Kriterium zur Bestimmung des Missbrauchs nur die Unangemessenheit der Gestaltung nennt, die nicht zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil führen darf, nennt die Norm nur die Voraussetzung, die ohnehin durch die Gesetzesanwendung gestellt wird. Durch die ihr innewohnende Erlaubnis der ergänzenden Interpretation über den Wortlaut hinaus haben wir es mit einer Generalnorm zu einer analogen Erweiterung der Steuerrechtsnormen zu tun.

Steuerrechtlich mag eine Analogie möglich sein. Strafrechtlich ist jedoch eine solche Analogie unzulässig, weil der Gesetzgeber dem Strafrichter eine solche Gesetzesanwendung aufgrund Art.103 Abs. 2 GG nicht gestattet. Auch § 42 AO als einfaches Gesetz auf Bundesebene kann nicht das in Art. 103 Abs. 2 GG geregelte Analogierverbot aufheben.

Insoweit kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass ein steuerlicher Missbrauch zwar ein Uminterpretation der steuerlichen Rechtsfolgen eröffnet, aber nicht zwingend eine strafrechtliche Rechtsfolge beinhaltet.

Weiteres Zwischenergebnis ist, dass eine strafrechtliche Verurteilung, die sich darauf beschränkt festzustellen, dass ein steuerlicher Missbrauch vorliegt, deshalb angreifbar ist, weil der strafrechtliche Vorsatz nicht festgestellt wurde.

Die Verknüpfung, dass jeder steuerliche Missbrauch ein Straftatbestand ist, hat der Gesetzgeber nämlich nicht gezogen. Weder ist in den steuerlichen Missbrauchsgesetzen die Rechtsfolge der Strafbarkeit enthalten, noch ist in den Strafgesetzen ein Sondertatbestand der Steuerhinterziehung durch Missbrauch immanent.

Auch im Vergleich der Rechtsfolge passt die nationale Norm nicht als Begründung für einen Straftatbestand. Gemäß § 42 Abs. 1 S. 3 AO entsteht der Steueranspruch bei Vorliegen eines Missbrauchs so, wie er bei einer angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht. Angemessene rechtliche Gestaltung wäre in der Rechtssache R die Offenlegung der wirklichen Empfänger der PKW gewesen. Die von § 42 AO beabsichtigte Rechtsfolge ist dann die Besteuerung nach dem wahren Sachverhalt. Damit läge die Steuerbefreiung für die Lieferung der PKW in Deutschland und nur die Besteuerung der Empfänger in Portugal vor. Die Versagung der Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung lässt sich gerade nicht mit § 42 AO begründen.

Wäre die Rechtssache R also, wie vorstehend gezeigt, steuerlich richtig behandelt worden, so bliebe der Anspruch auf Befreiung der Steuer in Deutschland bestehen. Konsequenterweise muss man also sagen, wenn ein Missbrauch der Richtlinie so zu behandeln ist wie ein deutscher Missbrauchsfall, so entstünde gar kein deutscher Steueranspruch. Festgestellt wäre bei einer offengelegten Verhaltensweise also nur, dass es im Bestimmungsland zu einer Umsatzsteuerhinterziehung kommen sollte. Ein deutscher Steueranspruch entsteht gerade nicht. Mit anderen Worten, die staatlich richtige Behandlung der Steuer schließt einen Straftatbestand aus.

cc. Keine Vereinbarkeit mit dem Analogieverbot

Das Analogieverbot verbietet die strafbegründende und die strafschärfende Analogie und ergibt sich aus Art. 103 Abs. 2 GG. Dadurch soll verhindert werden, dass neue Straftatbestände ohne Legitimation des Gesetzgebers geschaffen werden.

Der BGH begründet seine Entscheidung zur Bejahung des strafrechtlichen Tatbestandes damit, das Tatbestandsmerkmal „unterliegt den Vorschriften der Umsatzbesteuerung“ im § 6a Abs. 1 Nr. 3 UStG sei als nicht erfüllt anzusehen, wenn die Besteuerung des Erwerbsvorgangs gezielt umgangen wird”.[60] In der Literatur wird diskutiert, diese Betrachtung ziele auf die steuerliche Vorfrage ab und damit würde strafrechtlich keine Veränderung des normativen Tatbestandes gegeben sein.[61]

Das Strafurteil in der Rechtsache R widerspricht nach Ansicht des Verfassers dem Analogieverbot.

dd. Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot

Weiterhin wird diskutiert, ob die Annahme einer Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 AO i.V.m. dem im Lichte der gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsrechtsprechung ausgelegten § 6a UStG hinreichend bestimmt ist (Art. 103 Abs. 3 GG).[62]

In einer Verfassungsbeschwerde vom 16.6.2011 hinsichtlich dieses Aspektes äußerte sich das BVerfG[63]  in den Leitsätzen wie folgt:

“1. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG verwehrt den Gerichten jede tatbestandsausweitende Auslegung eines Strafgesetzes. Äußerste Grenze zulässiger Rechtsanwendung ist dabei der mögliche Wortlaut der Vorschrift. Für die Bestimmung des möglichen Wortsinns können auch gesetzessystematische und teleologische Erwägungen von Bedeutung sein (BVerfGK 3, 302, 303 ff.; 9, 420, 421 ff.; 10, 442, 447 ff.; 14, 177, 182 ff.).

  1. Bei Blankettstrafgesetzen unterliegen nicht nur diese selbst, sondern auch die sie ausfüllenden Vorschriften den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes. Um eine solche Blankettstrafnorm handelt es sich bei § 370 Abs. 1 AO, welcher der Ausfüllung durch die Steuergesetze – hier insbesondere § 6a Abs. 1 UStG – bedarf.
  2. Die Auslegung des § 6a Abs. 1 UStG durch den Bundesgerichtshof ist vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu beanstanden: Systematik und Wortlaut des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG (“den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegend”) lassen sowohl die Interpretation zu, dass entsprechende Besteuerungsvorschriften existieren, als auch, dass der Abnehmer der Steuer tatsächlich unterworfen wird. Die Auslegung durch den Bundesgerichtshof entspricht insbesondere der verbindlichen Auslegung der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH HRRS 2011 Nr. 276).
  3. Die angegriffene Entscheidung verletzt Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes (BVerfG HRRS 2011 Nr. 737). Eine eindeutige Straflosigkeit des Verhaltens ergab sich weder aus der damaligen Rechtsprechung der Strafgerichte, noch aus Entscheidungen des Bundesfinanzhofs oder des Europäischen Gerichtshofs. Bei Zweifeln über die Rechtslage ist es zumutbar, diese durch Aufdeckung des wahren Sachverhalts auszuräumen.”

Auch diesem Urteil ist Kritik entgegenzubringen. Zeitlich war gerade von der deutschen Rechtsprechung entschieden worden, dass die Aufzeichnungen zum § 6a UStG kein materielles Recht darstellen.

Auch ist die Überlegung, einen Täter deshalb zu bejahen, weil dieser notwendige Zweifel hätte haben müssen und sie nicht ausgeräumt hat  nicht folgerichtig. Die handelnde Person muss lediglich ausführen, dass sie in Übereinstimmung mit der vorherigen Entscheidung der Finanzgerichte, eben keine Zweifel gehabt hat. Ohne Zweifel müssen diese eben nicht ausgeräumt werden.

ee. Versagung der Steuerbefreiung als Sanktion

Der EuGH hat in seiner Stellungnahme klargestellt, dass die Versagung der Steuerbefreiung der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen bzw. von Missbräuchen des europäischen Steuersystems dienen soll und somit einen Sanktionscharakter hat.

Geht man davon aus, dass die Versagung der Steuerbefreiung eine Sanktion ist, muss man konsequent die nicht angegebenen und abgeführten Umsatzsteuern, die auf die Ware angefallen sind, nicht als Steuern, sondern als strafähnliche Sanktionen werten. Wenn es eine Sanktion ist, kann es sich nicht auch um eine „Steuer“ handeln, die von § 370 AO erfasst wird. Denn dann handelt es sich nicht mehr um steuerlich erhebliche Tatsachen im Sinne der Vorschrift des § 370 AO. Der Staat hat auch keinen Steueranspruch, sondern lediglich einen Anspruch auf Zahlung einer Sanktion in Höhe der anfallenden Umsatzsteuern.[64] Diese „Hinterziehung“ von Mehrwertsteuer wird somit nicht mehr von Wortlaut des § 370 Abs. 1 AO gedeckt.

ff. Problem der Doppelbestrafung/Doppelbesteuerun

Die inländische Strafbarkeit ist außerdem aus weiteren steuersystematischen Gesichtspunkten zu verneinen. Die Steuerfreiheit der Lieferung ergibt sich daraus, dass die Besteuerung im jeweiligen Mitgliedsstaat stattfindet. Da der Steueranspruch nur einmal entsteht, würde die Schaffung und Bestrafung eines inländischen Steueranspruchs neben der Tat im Ausland eine  faktische Doppelbesteuerung und in Konsequenz daraus einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbots darstellen.

Die doppelte Besteuerung der Umsatzsteuer würde außerdem gegen den Neutralitätsgrundsatz hinsichtlich der Besteuerung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen bedeuten.

Auch wenn man der Gegenansicht folgen würde, würde man zum Ergebnis kommen müssen, dass es sich bei dem Geschehen um einen einheitlichen historischen Lebenssachverhalt handeln würde, und somit um eine einheitliche prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO.[65]

gg. Verstoß gegen den „Nemo tenetur-Grundsatz“

Der „Nemo tenetur-Grundsatz“, festgehalten in § 393 Abs. 1 S. 2 AO, gewährleistet den Steuerpflichtigen, dass sich aus ihrem Schweigen keine negativen Folgen für sie ergeben dürfen.[66] Daraus folgt, dass die Einstufung als Sanktion durch den EuGH, einen Verstoß gegen den „Nemo tenetur-Grundsatz“ im Falle einer Nichtoffenbarung der Sanktionsvoraussetzungen durch den Betroffenen darstellt.[67]

hh. Keine Legitimation des EuGH

Schließlich ist festzuhalten, dass in den deutschen strafrechtlichen und steuerrechtlichen Gesetzen an keiner Stelle von dem Rechtsgut „innergemeinschaftliche Umsatzsteuersystem“ oder ähnliches die Rede ist. Dieses „Rechtsgut“ wurde vom EuGH frei erfunden, um den Sanktionscharakter zu rechtfertigen. Der EuGH ist aber nicht befugt, neue Rechtsgüter und somit neue Straftatbestände zu „erfinden“! Es gibt auch nicht das europäische Umsatzsteuerrecht. Wie oben gezeigt ist die Mehrwertsteuersystemrichtlinie kein geltendes Recht. Letztlich gibt es auch keine europäische, also keine gemeinsame, Kasse des europäischen Umsatzsteueraufkommens. Es ist jeweils Geld, welches in dem nationalen Eigentum verbleibt.

 ii. Systemwidrige Rechtsfolge

Der EuGH und ihm folgend der BGH  argumentieren vereinfacht wie folgt: Wer gegen das Recht verstößt, darf sich nicht auf das Recht berufen. Eine derartige Argumentation kann einfach nicht richtig sein. Auch ohne juristische Ausbildung ist jedem Leser klar, dass entweder Recht angewandt wird oder das gesamte Recht durch emotionelle Entscheidungen ersetzt wird. Ein Aberkennen des Rechts, sich auf rechtsstaatliche Grundsätze zu berufen, ist von keiner Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Rechtsstaates, das Recht selbst zu wahren. Der Beschuldigte darf sich darauf verlassen, dass der jeweilige Staat bei der Bestrafung das Recht anwendet. Dieses bezieht sich nicht nur auf strafprozessuale Vorschriften, sondern muss gerade auch dort gelten, wo der Straftatbestand selbst definiert ist. Ein strafrechtlich geschütztes Missbrauchsverbot existiert gerade nicht. Sogar die Suche nach einem speziellen umsatzsteuerlichen Missbrauchsverbot als reine Steuernorm bleibt ergebnislos. Nicht einmal in der Richtlinie, die natürlich national kein geltendes Recht ist, kommt etwas derartiges vor.

Wenn dennoch die Rechtsprechung ein Missbrauchsverbot  im Sinne, dass es sich um strafbewehrtes Missbrauchsverbot handelt,  annimmt, so kommt sie natürlich in Argumentationsprobleme, wenn der Beschuldigte dieses Norm sucht um diese dann zu  subsumieren.. Diese Suche des Beschuldigten nach der Norm, nach der er bestraft werden soll zu eliminieren, indem man ihm das Suchen nach dieser Norm verbietet, gehört schon eher zu dem Werkzeugkasten eines Schurkenstaates. Ein Ergebnis, welches einfach nur als verfassungswidrig angesehen werden kann.

 

 

 

 

 

[1] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-844_de.htm.

[2]  RICHTLINIE 2013/42/EU DES RATES vom 22. Juli 2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf einen Schnellreaktionsmechanismus bei Mehrwertsteuerbetrug; http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/common/publications/studies/vat_gap2013.pdf;
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:32013L0042.

[3] Der EuGH (Optigen 12.1.2006, C-354/03, C-355/03 und C-484/03) definiert es wie folgt:

Den Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑354/03 und C‑355/03 zufolge sowie nach Angaben der Commissioners in der Rechtssache C‑484/03 funktioniert ein „Karussellbetrug“ grundsätzlich wie folgt:

Eine Gesellschaft A mit Sitz in einem Mitgliedstaat verkauft Gegenstände an eine Gesellschaft B mit Sitz in einem zweiten Mitgliedstaat.

Die Gesellschaft B, bei der es sich um den Händler handelt, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt oder eine „entwendete“ Umsatzsteuer‑Identifikationsnummer verwendet, verkauft diese Gegenstände mit Preisnachlass an eine Puffergesellschaft C mit Sitz in diesem zweiten Mitgliedstaat weiter. Die späteren Verkäufe können so mit Gewinn getätigt werden. Die Gesellschaft B muss auf den Kauf der betreffenden Gegenstände Mehrwertsteuer entrichten, hat aber, da sie diese Gegenstände für steuerpflichtige Umsätze verwendet hat, auch ein Recht auf Abzug dieser Mehrwertsteuer als Vorsteuer. Andererseits schuldet B die Mehrwertsteuer, die sie der Gesellschaft C berechnet hat, verschwindet aber, bevor sie den entsprechenden Betrag an die Steuerverwaltung abführt.

Die Gesellschaft C verkauft die betreffenden Gegenstände ihrerseits an eine weitere Puffergesellschaft D im zweiten Mitgliedstaat weiter, wobei sie die ihrem Abnehmer berechnete Mehrwertsteuer an die Steuerverwaltung abführt, nachdem sie hiervon die gezahlte Vorsteuer abgezogen hat, und so weiter, bis eine Gesellschaft im zweiten Mitgliedstaat die Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat ausführt. Die Ausfuhr ist von der Mehrwertsteuer befreit, aber die ausführende Gesellschaft hat gleichwohl einen Anspruch auf Erstattung der für den Kauf der Gegenstände gezahlten Vorsteuer. Ist der Käufer die Gesellschaft A, handelt es sich um einen echten „Karussellbetrug“.  Verfahren kann wiederholt werden.

[4] Klein/Jäger § 11 AO, § 370 AO Rn. 373.

[5] Adick/Höink/Kurt Umsatzsteuer und Strafrecht, 3.Kapitel Rn. 58ff.

[6] ABL EG 04 Nr. L 94, 59.

[7] EEX Börse Leipzig.

[8] Vgl. Adick/Höink/Kurt Umsatzsteuer und Strafrecht, 3.Kapitel Rn. 63f.

[9] https://secure.nmfta.org/Welcome.aspx.

[10] FG Baden Württemberg 7.5.2004; Az 12 V 10/04.

[11] EUGH UR 2007, 787

[12] BMF-Schreiben. v. 6.1.2009, IV B 9 – S 7141/08/10001 (BStBl I 2009, 60).

[13] BFH Urteil v. 12.5.2009 – V R 65/06.

[14] BGBl. 2011 I, S. 2416.

[15] EuGH mit Urt. v. 27.9.2012, C-587/10; EuGH-Urteil v. 6.9.2012, C-273/11, Rs. Mecsek-Gabona Kft.

[16] BFH Urt. v. 28.5.2013, XI R 11/09.

[17] BMF-Schreiben v. 1.6.2012, IV D 3 – S 7141/11/10003-06.

[18] BR-Drs. 66/13 v. 4.2.2013.

[19] BFH V R 47/03, BStBl II 06 S. 634; BFH V R 41/04 DStR 07, S. 754.

[20] EuGH  v. 12.01.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03.

[21] EuGH  v. 12.01.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03.

[22] EuGH  v. 06.07.2006 – C-439/04 und C-440/04 Rn.51-57.

[23] EuGH 21.6.2012, Az. C-80/11und C-142/11.

[24] BGH, 07.07.2009 – 1 StR 41/09; siehe auch; Schlussvorträge des Generalanwalts Pedro Curz Villa

lon vom 29. Juni 2010, Rz. 3.

[25] BGH, 07.07.2009 – 1 StR 41/09.

[26] LG Mannheim, 17.09.2008 – 25 KLs 605 Js 7769/08.

[27] BGH, Beschluss vom 20. 11. 2008 – 1 StR 354/08 (LG München II); NJW 2009, 1516.

 

[28] BGH, Beschluss vom 20. 11. 2008 – 1 StR 354/08 (LG München II) Rn. 7.

[29] BGH, Beschluss vom 20. 11. 2008 – 1 StR 354/08 (LG München II),  1. Leitsatz.

[30] BGH, 07.07.2009 – 1 StR 41/09, 2. Leitsatz.

[31] http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/1/08/1-354-08.php, 5.Leitsatz.

[32] Beschluss vom 11. März 2009, Aktenzeichen 1 V 4305/08.

[33] Beschluss vom 11. März 2009, Aktenzeichen 1 V 4305/08 Rn. 19 f.; EuGH v. 27. 9. 2007, C-409/04, Teleos u. a ., a. a. O., Rn. 69 ff.

[34] BFH-Urt. v. 6. Dezember 2007, V R 59/03, BFHE 219, 469 = DStR 2008, 297.

[35] BFH-Urt. v. 6. Dezember 2007, V R 59/03, BFHE 219, 469 Rn. 23.

[36] BFH-Urt. v. 6. Dezember 2007, V R 59/03, BFHE 219, 469, Rn. 24.

[37] EuGH-Urt. v. 6. Juli 2006, C-439/04 und C-440/04, DStR 2006, 1274, Kittel und Ricolta Recycling, Rn. 54.

[38] BFH · Beschluss vom 29. Juli 2009 · Az. XI B 24/09; BFHE 226,449; DStR 2009, S. 1693.

 

[39] BFH · Beschluss vom 29. Juli 2009 · Az. XI B 24/09; BFHE 226,449, Rn. 36-43; DStR 2009, S. 1693.

[40] BGH 7. Juli 2009, 1 StR 41/09.

[41] BGH 7. Juli 2009, 1 StR 41/09 Rn.50.

[42] BGH 7. Juli 2009, 1 StR 41/09 Rn.54.

[43] BGH 7. Juli 2009, 1 StR 41/09 Rn.55.

 

[44] BGH 7. Juli 2009, 1 StR 41/09 Rn.58.

[45] BGH 7. Juli 2009, 1 StR 41/09.

[46] EuGH-Urteils vom 07.12.2010 in der Rechtssache „R“ C-285/09.

[47] EuGH-Urteils vom 07.12.2010 in der Rechtssache „R“ C-285/09 Rz. 50.

[48] EuGH-Urteils vom 07.12.2010 in der Rechtssache „R“ C-285/09 Rz. 51.

[49] EuGH-Urteils vom 07.12.2010 in der Rechtssache „R“ C-285/09 Rz. 53.

[50] EuGH-Urteils vom 07.12.2010 in der Rechtssache „R“ C-285/09 Rz. 54.

[51] BGH, Beschluss vom 20.10.2011 – 1 StR 41/09.

[52] EuGH C-80/11 und C142/11.

[53] Kürzungen beziehen sich auf Zitate anderer Quellen.

[54]EuGH, 06.12.2012 – C-285/11, Bonik.

[55] BFH, 18.2.2016, V R 62/14.

[56] Entstehungsgeschichte zu § 370 AO – Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht Rn. 1-15.

[57] Bielefeld Franz,  Fortbildung des Umsatzsteuerstrafrechts durch den EuGH? – Auswirkungen der Entscheidungen des EuGH v. 12.1.2006 und 6.7.2006 auf das Umsatzsteuerstrafrecht”; wistra 2007, 9, 12.

[58] EuGH v. 8. 10. 1987, Ziff. 13 f.; EuGH v. 11. 6. 1987, C-14/86, BeckRS 2004, 71620, Ziff. 19 f.; ausführlich zu den Entscheidungen C. Schroeder (Fn. 69), S. 16–19.

[59] vgl. zur Anwendung des § 42 AO im Strafrecht  Joecks, in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Aufl. (2009), § 370 Rn. 140; Fischer, in Hepp/Hübschmann/Spitaler, AO, Stand März 2009, § 42 Rn. 55 ff.

[60] BGH, Beschluss vom 20.10.2011 – 1 StR 41/09 Rn.22.

[61] Vgl. hierzu Ransiek Andreas  § 370 AO und Steuerbefreiungen für innergemeinschaftliche Lieferungen, HRRS 2009, 421, 423; ferner Dannecker in: LK (Fn. 13) § 1 Rn. 149; ders. in: Achenbach FS (2011), S. 83, 87.

[62] Bülte, HRRS 2011, 465ff.

[63] BVerfG v. 16.6.2011 – 2 BvR 542/09, DStRE 2012, 379.

[64] Bülte, HRRS 2011, 465, 470. So auch Schaumburg/Peters, Internationales Steuerstrafrecht, 2015, Rz. 10.35f.

[65] Schaumburg/Peters, Internationales Steuerstrafrecht, 2015, Rz. 10.39.

[66] EGMR v. 29.6.2007 – O´Halloran und Francis, NJW 2008, 3549 Rz. 53 ff.; EGMR v. 10.1.2008 – Lückhof und Spanner, ÖjZ 2008, 375 Rz. 47 ff.

[67] Bülte, HRRS 2011, 465, 470.; Dahin tendierend Wulf/Alvermann DB 2011, 731, 736.