Eine Meinung dazu im Zusammenhang mit dem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes: Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Einkommensteuerbefreiung (sogenannte Aktivrente-Gutachten WD‑4‑013‑25 – Verfassungsrechtliche Bewertung der Aktivrente)
1. Prüfungsmaßstab: Art. 3 Abs. 1 GG und Leistungsfähigkeitsprinzip
Der Wissenschaftliche Dienst prüft die Steuerbefreiung für weiterarbeitende Personen jenseits der Regelaltersgrenze am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG. Maßgeblich ist das Leistungsfähigkeitsprinzip als Ausprägung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht. Es fordert, Steuerpflichtige gleicher Leistungsfähigkeit gleich zu behandeln und Differenzierungen nur bei sachlicher Rechtfertigung zuzulassen.
2. Doppelte Ungleichbehandlung
Das Gutachten identifiziert zwei Differenzierungsebenen: erstens nach dem Lebensalter, zweitens nach der Art der Erwerbstätigkeit. Nur Personen jenseits der Regelaltersgrenze und nur abhängig Beschäftigte profitieren von der Steuerbefreiung. Selbständige und Beamte bleiben ausgeschlossen. Diese doppelte Differenzierung erhöht den verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsdruck erheblich.
3. Kritik am Ausschluss der Selbständigen
Der Ausschluss der Selbständigen wird als zentraler Gleichheitsverstoß bewertet. Selbständige, die über die Regelaltersgrenze hinaus tätig bleiben, befinden sich in vergleichbarer wirtschaftlicher Lage zu abhängig Beschäftigten. Beide erzielen Einkünfte aus persönlicher Arbeitsleistung. Die Ungleichbehandlung allein aufgrund der Erwerbsform entbehrt eines tragfähigen sachlichen Grundes.
Sozialversicherungsrechtliche Unterschiede rechtfertigen die Differenzierung nicht, da die Aktivrente nicht an Beitragslasten, sondern an die steuerliche Behandlung von Erwerbseinkünften anknüpft. Auch das Ziel der Fachkräftesicherung kann den Ausschluss nicht begründen, weil Selbständige gleichermaßen zur volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beitragen.
Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlangt eine gleichmäßige steuerliche Behandlung aller Erwerbstätigen mit vergleichbarer Ertragskraft. Eine Begünstigung nur für Arbeitnehmer verletzt diesen Grundsatz und führt zu struktureller Wettbewerbsverzerrung zugunsten abhängiger Beschäftigung.
Das Gutachten schließt, dass der Ausschluss der Selbständigen gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, sofern der Gesetzgeber keine zwingenden Gemeinwohlgründe nachweist. Solche Gründe werden im Gutachten nicht festgestellt.
4. Ergebnis
Die vorgesehene Aktivrente in der diskutierten Form steht nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes im Spannungsverhältnis zum Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Insbesondere der Ausschluss der Selbständigen stellt eine verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung dar. Der Gesetzgeber müsste eine substantielle Rechtfertigung liefern, um die Regelung verfassungskonform auszugestalten. Wir werden genau diesen Aspekt weiter verfolgen.