BFH – VI R 14/22
1) Wesentliche Aussage
Der VI. Senat präzisiert den Kenntnisbegriff bei der Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO):
- Maßgeblich ist die Kenntnis derjenigen Personen im zuständigen Finanzamt, die organisationsmäßig für den konkreten Fall zuständig sind bzw. den Bescheid erlassen haben.
- Elektronisch vorhandene Daten, die nicht (Papier-/elektronisch) aktenkundig sind oder nicht automatisch in die Fallakte einlaufen, begründen für sich keine Behördenkenntnis.
- Unterbleibt die Pflichtveranlagung, kann trotz im Hintergrund vorhandener eDaten der objektive Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt sein; dies eröffnet die verlängerte Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 S. 2 AO: 10 Jahre bei Hinterziehung; 5 Jahre bei Leichtfertigkeit).
- Der BFH hebt die Entscheidung der Vorinstanz auf und verweist zur weiteren Aufklärung – insbesondere zum subjektiven Tatbestand – zurück.
2) Was ist neu?
- Digitalisierungs‑Klarstellung zur Behördenkenntnis:
- Bloß abrufbare eDaten in behördlichen Systemen genügen nicht; es kommt auf aktenmäßige Verfügbarkeit beim zuständigen Bearbeiter an.
- Adressat der Kenntnis:
- Die ‚Finanzbehörde‘ ist nicht abstrakt zu verstehen; maßgeblich ist der für den Fall zuständige Bearbeiterkreis, nicht andere Organisationseinheiten.
- Dogmatischer Rahmen:
- Die Frage, ob bereits die pflichtwidrige Nichtabgabe der Erklärung das ‚In‑Unkenntnis‑Lassen‘ i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begründet, bleibt ausdrücklich offen; entschieden wird, dass jedenfalls keine behördliche Kenntnis vorlag.
3) Kurz zum Sachverhalt
Ehegatten wechselten infolge der Lohnsteuerklassenkombination III/V von der Antrags‑ zur Pflichtveranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG), gaben jedoch für 2009/2010 keine Einkommensteuererklärungen ab. Lohnsteuer‑eDaten lagen in einer separaten behördlichen Übersicht vor, liefen aber nicht automatisch in die Fallakte ein. Das FG verneinte mangels Unkenntnis der Behörde eine Hinterziehung; der BFH hob auf und verwies zurück.
4) Praktische Folgen
- Compliance‑Pflicht bleibt beim Steuerpflichtigen:
- Mandanten können sich nicht darauf berufen, das Finanzamt ‚wisse alles‘ aus ELSTER/ELStAM/eDaten. Ohne Aktenzufluss beim zuständigen Bearbeiter liegt keine Behördenkenntnis vor.
- Fristenrisiko:
- Bei Unterlassen drohen die verlängerten Festsetzungsfristen gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO (10/5 Jahre) i.V.m. § 170 AO (Anlaufhemmung).
- Prozessuale Konsequenz:
- Im zweiten Rechtsgang ist der subjektive Tatbestand (Vorsatz/Leichtfertigkeit) aufzuklären; die objektive Seite kann trotz vorhandener eDaten erfüllt sein.
5) Checkliste für (Steuerberater)Kanzlei
- Mandatsaufnahme/Monitoring:
- Bei Ehegatten mit III/V oder Faktorverfahren Pflichtveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG prüfen; bei Statuswechsel proaktiv zur Abgabe anhalten.
- Akteneinsicht:
- In Verjährungs‑/Verteidigungsfragen konkret prüfen, was beim zuständigen Bearbeiter aktenkundig war (elektronische Fallakte, Vermerke), nicht nur, was in zentralen Systemen vorlag.
- Risikohinweis dokumentieren:
- Mandanten darauf hinweisen, dass die Übermittlung von Lohn‑/Kapitalertragsdaten durch Dritte die Erklärungspflicht nicht ersetzt.
- Fristenmanagement:
- Bei möglichen Unterlassensfällen die verlängerten Fristen (10/5 Jahre) in die Risikobewertung einplanen.
6) Fundstellen
BFH, Urteil vom 14.05.2025 – VI R 14/22 (Leitsätze, Tenor, Gründe).
FG Münster, Urteil vom 24.06.2022 – 4 K 135/19 E (Vorinstanz).
Quintessenz
Kenntnis i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ist aktenbezogene Kenntnis des zuständigen Bearbeiters – nicht die bloße Abrufbarkeit von eDaten in behördlichen Systemen. Erklärungspflichten bleiben strikt; Verjährungsrisiken sind entsprechend zu steuern.